Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
eine arbeitslose Mutter, die ihr Ersatzleben in Fotoromanen suchte, wo sie neben anderen Traumstoffen auch den affigen Vornamen für ihre einzige Tochter fand.
Besagte Tochter erfand sich mit fünfzehn Jahren einen vertretbaren Spitznamen und suchte mit achtzehn ihr Heil in möglichst großer Ferne, wobei ihr als Vorwand diente, dass man in Frankreich keine Studiengebühren zahlen musste. Durch Zufall ließ sie sich in Grenoble nieder und durch ein Ausschlussverfahren, da sie weder literarische noch naturwissenschaftliche Neigungen hatte, entschied sie sich für Soziologie. Sie lebte von einem so mageren Stipendium, dass sie sich außer der Miete für ihre Dachstube, den Mensakosten und Druckerpapier keinerlei Extras leisten konnte, weder Kleidung noch Theater- oder Kinokarten, noch Skikurse in den Wintersportorten in der Umgebung von Grenoble. Was ihr ziemlich schnuppe war. Nie zuvor war sie so glücklich gewesen. Sie atmete. In jeder Minute genoss sie es bis zur Euphorie, integer zu sein und autonom, alles noch zu lernen, alles noch zu lesen und das Leben noch vor sich zu haben, Muskeln zu haben, die nur darauf warteten zu spielen, offenes Haar und mehrmals am Tag schrecklichen Hunger. Ganz davon zu schweigen, dass sie ein echtes Interesse für die Soziologie entwickelt hatte.
Sie hatte Freunde, oder eigentlich Studienkollegen, junge Leute aus wohlhabenden oder wenigstens normalen Familien, die sich nicht hätten vorstellen können, dass jemand in ihrer Umgebung von so wenig Geld leben könnte. Und ihnen allen war etwas gemeinsam, das sie erstaunlich fand: Niemand von ihnen schien mehr über sie wissen zu wollen, als sie zu erkennen gab, nämlich dass sie eher zurückhaltend war, ausgeglichen und immer bereit, ihre Mitschriften und Lektüre-Aufzeichnungen denen zu leihen, die weder in die Vorlesungen gingen noch in die Bibliothek.
Aber diese Art Leichtigkeit hatte ihren Reiz. Das junge Mädchen entdeckte, dass es Freundschaften gibt, die zu nichts verpflichten und dennoch zu etwas gut sind. So war sie zum Beispiel, ohne es darauf abgesehen zu haben, Teil einer Clique geworden, die oft zum Skifahren in einen der Wintersportorte der Umgebung hinauffuhren, besonders gern nach Méribel. Sie wollte schrecklich gern aus Grenoble herauskommen, war aber noch nie Ski gefahren. Sie gab vor, allen Sport und insbesondere das Skifahren zu hassen und leidenschaftlich gern in Cafés herumzusitzen und zu schmökern, diese Leidenschaft hatte sie übrigens, wie sie allmählich herausfand, tatsächlich. Und die Clique hatte nichts dagegen einzuwenden. Einer der guten Skifahrer in dieser Gruppe, ein gewisser Antoine, sagte ihr sogar manchmal, er bewundere ihre geistige Unabhängigkeit und dass sie der Verpflichtung, in Skiorten Ski zu fahren, widerstehen könne.
Das war vielleicht ein wenig dumm, aber immer noch viel besser als irgendwelche Warums oder Wie-kannst-du-nurs.
Eines Tages, den sie so lesend in einem Café des Wintersportortes verbracht hatte, wobei sie mit dem dicken südafrikanischen Roman aus der Leihbibliothek früher als erwartet fertig geworden war – mit gutem Grund, er langweilte sie so, dass sie zum Schluss nur noch jede dritte Zeile las –, wollte sie die verbleibende Zeit in einer Art Zeitschriftenladen nebenan totschlagen. Im Keller entdeckte sie eine unerwartet reichhaltige Buchhandlung und in dieser Schatzhöhle ein Meisterwerk reinsten Wassers, den Roman einer jungen Autorin, deren Namen sie so schnell nicht vergessen würde, Noëlle Revaz. Sie las das Buch in einem Zug durch, und als sie, noch ganz benommen, den Kopf hob, sah sie den auf sie gerichteten Blick des Buchhändlers und sein verständnisinniges Lächeln. Sie entschuldigte sich. Der Buchhändler auch, weil sie hatte glauben können, er habe etwas an ihrem Verhalten auszusetzen. Sie unterhielten sich mit einer Unbefangenheit und einem Vergnügen, wie es selten vorkommt.
Sie war um fünf Uhr mit ihren Studienfreunden am Wagen verabredet, sie verabschiedete sich. Sie hätte es schön gefunden, wenn der Buchhändler sie gefragt hätte, ob er sie wiedersehen könne. Doch nein, er ließ sie fortgehen, ohne etwas in der Richtung zu äußern.
Es vergingen etwa acht Wochen, bis sie wieder nach Méribel kam. Drei Stunden lang überlegte sie und ging schließlich doch in die Buchhandlung. Der Buchhändler empfing sie mit einer Freude, die echt wirkte, sagte ihr jedoch sofort, er werde die Alpen am nächsten Tag verlassen und nach Paris
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