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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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Verzweifelte war nicht zu sehen, vielleicht schon fortgeschwemmt oder ertrunken. Bailly legte seine Mütze auf das Brückengeländer, hielt sich die Nase zu und sprang. Das Wasser war eiskalt und er ein schlechter Schwimmer. Er hatte alle Mühe, wieder auf festen Grund zu gelangen, fünfhundert Meter von der Brücke entfernt, im Port des Invalides. Die Menge erwartete ihn dort bereits. Sie war zufrieden. »Er ist ein Held«, sagten die Leute immer wieder. »Heißen Kaffee her und Decken.«
    Der Schutzmann Bailly erhielt eine Medaille und eine Straße, und er erfuhr nie, wer die junge Dame war, der er beides verdankte, und warum sie ins Wasser gegangen war. Er träumte so lange von ihr, bis er langsam in Melancholie verfiel und, vermutlich aus Sympathie, darin unterging. Die dreißig Jahre, die ihm noch blieben, verbrachte er in der Anstalt Sainte-Anne, mit traurigem Lächeln und dem Blick eines Ertrunkenen.
    Statt einer Abschiedsformel hatte Anis über ihre Unterschrift nur ein »À vous« gesetzt. Van vermutete natürlich nicht, dass sie sich als »Ganz die Ihre« verabschiedet hatte, sondern las es als ein »Jetzt sind Sie dran«, also als Einladung, diese Erzählung zu untermauern oder aber ihr zu widersprechen. Er antwortete sofort.
    Anis, Ihr Vertrauen in die Menschheit rührt mich und stimmt mich besorgt. Ihre Version des Hergangs ist nicht stichhaltig. Wie konnten Sie annehmen, der Schutzmann Gaston B. sei gefeiert worden, weil er einfach nur versucht habe, eine Frau vor dem Ertrinken zu retten? Wenn sein Versuch gescheitert wäre und er dennoch überlebt hätte, wäre er von einer höhnischen Meute empfangen worden. Ich habe mich in meinem Brief schlecht ausgedrückt. Schutzmann B. ist in die Geschichte eingegangen, weil er bei dem vergeblichen Versuch, einer Verzweifelten zu helfen, den Tod fand. Es ist diese Vereinigung im Tod, welche die Zeitgenossen rührte, denn als der Schutzmann die junge Frau in die Arme nahm, um sie zu retten, ging er mit ihr unter.
    Mit einem Mal kommt mir der Gedanke, dass die Nachwelt dieser Frau kein Gedenken bewahrt hat, was ein wenig ungerecht ist, wenn man bedenkt, dass ohne sie auch Gaston Bailly vergessen wäre. Anis, jetzt, in diesem Augenblick, haben Sie mir ein Mittel gezeigt, dieser Ungerechtigkeit abzuhelfen. Dank Ihnen ist mir eine Möglichkeit eingefallen, wie man sowohl den Schutzmann Bailly als auch diese Verblichene, die wir aus ihrer Anonymität retten wollen, auf immer ehren kann. Ich werde ihre schöne Geschichte auf die Wände meines Zimmers malen. Ich sehe viel Grün, und auch Schwarz.
    Bitte sehr. Würden Sie mir Namen, Alter und weitere Informationen bezüglich der jungen Dame mitteilen? Und wenn Sie mögen, dann kommen Sie sich meine Hommage an Gaston Bailly und die Undine seines Lebens doch anschauen.
    Van machte sich auf der Stelle ans Werk. Er stand zeitig auf und arbeitete jeden Tag ein oder zwei Stunden daran.
    Als Erstes befestigte er große Papierbogen an der Wand. Er stellte sich vor, die Geschichte in drei Bildern zu malen: Die junge Frau springt; der von der Menschenmenge gedrängte Schutzmann springt hinterher; die junge Frau und der Schutzmann ertrinken, innig umarmt. Im Zeichnen war er nicht besonders gut, aber er hatte manchmal gemalt, und man gestand ihm einen Sinn für Farben zu. Er hatte beschlossen, allen Raum der Landschaft zu geben, den Seine-Quais, den Gebäuden, dem Fluss – den er in Grün malen würde –, und die letzten Augenblicke des Schutzmanns Bailly nur sehr klein darzustellen.
    In acht Tagen hatte er die Vorzeichnung auf Papier fertig. Van nahm die großen Bogen von den Wänden ab und versah diese mit einer ordentlichen Grundierung. Darauf skizzierte er mit einem Kohlestift die Umrisse. Dann kaufte er Farben, Schwarz und Weiß für die Grautöne, Gelb und Blau für die Grüntöne, ein wenig Siena für den Schnurrbart des Schutzmanns, Karmin für die Lippen der Verzweifelten, und dann machte er sich ans Malen.
    Dieses Mal kam Anis’ Antwort sehr schnell.
    Die junge Frau, die Gaston Bailly hätte retten können? Ja, ich habe Informationen über sie.
    Sie war zwanzig Jahre alt, als sie sich begegneten. In jenem Jahr verwendete sie den Großteil ihrer Energie auf den Versuch, sich von einer nicht gerade in Watte gepackten Jugend zu lösen, in Belgien, in einem Milieu von Kleinstbauern, denen schließlich nichts anderes übrig blieb, als ihren Grund und Boden zu verlassen. Die übliche Leier: ein furchtbar riechender Stiefvater,

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