Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
umsiedeln.
Sie schlug vor, dass er sie am folgenden Tag auf seiner Reise für eine Stunde traf, denn sein Weg führte über Grenoble. Tatsächlich trafen sie sich, und das Treffen dauerte eher zwei als eine Stunde. Der Buchhändler war mit seinen Gedanken schon weit weg. Er war gerade einer Fee begegnet, die ihm den Traum seines Lebens schenkte, nämlich in Paris eine Buchhandlung zu führen, in der es nur Meisterwerke geben sollte. Er hatte an sieben aufeinanderfolgenden Abenden mit ihr gegessen, und diese Frau, so sagte er, war überirdisch schön, aristokratisch, empfindsam, ganz einfach ein Ausnahmegeschöpf, wie man es sonst nur im Film sieht.
Ein Monat verging, bis sie einen kurzen Brief von ihm erhielt. Alles, was er ihr zu schreiben hatte, war, in drei Zeilen, dass eine Frau ein Jahrhundert zuvor ertrunken war, weil der Mann, dem die Straße, in der der Buchhändler eine Wohnung gefunden hatte, ihren Namen verdankt, sich so wenig beeilt hatte, sie aus dem Wasser zu holen.
Der Studentin lief es kalt über den Rücken. Sie ließ einige Tage vergehen, damit es nicht mehr so wehtat, und antwortete dem leichtfertigen jungen Mann mit einem Brief, den sie für klar und deutlich hielt. Sie gab ihm darin zu verstehen, dass es bei mangelnder Achtsamkeit auch geschehen kann, dass eine Gelegenheit zu lieben untergeht.
Der Antwortbrief des Buchhändlers bewies, dass er die Andeutung nicht verstanden hatte. Er kam auf dieses Ertrinken zurück und fügte selbstgefällig hinzu, der Mann, dem nicht danach war, die Verzweifelte ins Leben zurückzuholen, sei ebenfalls ertrunken. Zwischen den Zeilen las die Studentin: Das ist ja gerade das Schöne. Tatsächlich kündigte der Buchhändler an, er werde diese Geschichte auf die Wände seines Zimmers malen und dabei viel Grün und viel Graugrün verwenden. Schlimmer noch – ist das überhaupt möglich? –, er ermunterte die Studentin, sie solle seine Fantasie beflügeln, indem sie ihm etwas über die Ertrunkene erzähle, und sich das Gemälde später ansehen kommen. Die Verlassene in Grenoble verbrachte eine schlaflose Nacht. Sie erkannte bei dem Buchhändler eine Art Vorliebe für das Unvollendete in der Liebe, insbesondere für das bloß Skizzierte. In einem letzten Aufbäumen ihrer Energie schrieb sie ihm.
À vous?
Anis
Als Van abends nach Hause kam und diesen Brief las, war es schon halb eins. Langsam stieg er die Treppe hinauf und las dabei immer schneller. Als er im dritten Stock angekommen war, faltete er den Brief wieder zusammen und rannte dann weiter, wobei er immer vier Stufen auf einmal nahm. In seinem Atelier schnappte er gleich nach dem Telefon, ohne auch nur die Tür zu schließen. Er kannte Anis’ Telefonnummer nicht. Verzweifelt versuchte er, sie zu finden, und trieb auch den Herrn in der Auskunft, der ihm mehrmals sagte, er habe in Grenoble niemanden dieses Namens, so zur Verzweiflung, dass dieser schließlich auflegte.
Van stürmte wieder aus dem Haus und suchte, immer noch im Laufschritt, in den Straßen ringsum nach seinem Auto, das er seit seiner Ankunft in Paris nicht mehr benutzt hatte. Eine halbe Stunde lief er im Kreis, fast wäre er in Tränen ausgebrochen, und schließlich stieß er zufällig auf die Rostlaube, in einer Sackgasse gleich in der Nähe seiner Wohnung.
Um sechs Uhr kam er in Grenoble an, lange vor Tagesanbruch. So hatte er es geplant. Er lief die Treppe bis zu Anis’ Mansarde hinauf, rollte sich auf ihrer Fußmatte zusammen und schlief, wider Erwarten, ein.
Als Anis um Viertel nach acht ihre Tür öffnete und ihn sah, erstarrte sie einige Augenblicke, dann trat sie über ihn hinweg, ohne ihn zu wecken. Es muss einen Schutzheiligen für die vielen Liebenden geben, die nicht wissen, was sie wollen – ein kleiner Heiliger aus der hintersten Reihe der Seligen, verkannt, obwohl er sehr aktiv ist und definitionsgemäß immer aus eigenem Antrieb. Van wurde von einem Geräusch geweckt, das immer leiser wurde, je mehr es sich die Treppe hinunterbewegte. Anis vermied, dass ihre Absätze die Stufen berührten, doch das heftige Schluchzen, das ihren ganzen Körper schüttelte, konnte sie nicht unterdrücken. Van stürmte die Treppe hinunter, zwei Mal wäre er fast gefallen, doch als er im Eingangsflur des Gebäudes ankam, war niemand mehr da. Er stürzte nach draußen und sah Anis am Ende der Straße, sie rannte wie ein Gefangener auf der Flucht, ihre Bücher und Hefte im Arm und mit offen flatternder Gabardinejacke. Er holte sie ein, nahm
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