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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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sie fest in die Arme, brachte sie fast zu Fall, wäre beinahe mit ihr gefallen und schickte Bücher und Hefte zu Boden. Ihr Gesicht war voller Tränen. »Sich gemeinsam den Hals brechen ist auch so etwas wie Ertrinken«, schluchzte sie und drehte den Kopf weg, um seinen Küssen zu entgehen.
    Woher ich diese Einzelheiten weiß? Van hat mir oft von dieser Szene erzählt, und jedes Mal, um sich reuig an die Brust zu schlagen und sich seine Blindheit, seine Plumpheit und seine Egozentrik vorzuwerfen.
    Anis machte sich los. Er sammelte ihre Bücher auf und wischte sie ab.
    »Ich gehe«, erklärte sie, als sie sie ihm wieder abnahm.
    »Ich gehe mit«, sagte er.
    »Lassen Sie mich«, stöhnte sie.
    »Nur wenn Sie mir sagen, wo und wann ich Sie heute wiedersehen kann.«
    Es war, als säße sie in einer Falle.
    »Ich weiß nicht«, stammelte sie.
    »Hier, um vier Uhr?«, schlug Van versuchsweise vor.
    »In Ordnung«, hauchte sie.
    »Ich rühr mich nicht von der Stelle!«, schrie er und folgte ihr mit den Augen, während sie im Zickzack davonlief, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Van zitterte. Vor Kälte, sagte er sich wider besseres Wissen. Er hatte gesagt, er werde sich nicht von der Stelle rühren, doch er musste etwas gegen dieses Zittern unternehmen. Auf der anderen Straßenseite schüttete neben dem Eingang eines kleinen Hotels ein Angestellter einen Eimer Wasser auf den Bürgersteig.
    Dort nahm Van ein Zimmer, er erklärte, er wolle schlafen und man solle ihn um fünfzehn Uhr wecken, aber pünktlich. Er warf sich angezogen aufs Bett. Als das Klingeln des Telefons ihn aus dem Schlaf riss, kam ihm sein Aktionsplan für die anbrechende Stunde genauso wieder ins Gedächtnis, wie er ihn in der Sekunde des Einschlafens beschlossen hatte: duschen, vom Hotel aus ein Fax an Francesca senden, in etwa mit den Worten: »Ich musste wegen eines dringenden Klärungs- und Aktionsbedarfs sechshundert Kilometer weit fahren, ich komme zurück«, einen Happen essen und schließlich einen riesengroßen Blumenstrauß kaufen – doch da kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Es war sehr gut möglich, dass Anis nicht zurückkam. Vielleicht versteckte sie sich irgendwo – womöglich bei diesem lächerlichen Antoine –, bis sie eine andere Wohnung gefunden hatte, und würde nie wieder auftauchen. Es war sogar möglich, dass sie zu diesem Antoine gezogen war. Van würde sie nie wiederfinden.
    Die Stunde vor der Verabredung verbrachte er in einem Zustand schrecklicher Sorge. Er hielt sich an seinen Plan, mit einer Ausnahme. Irgendetwas riet ihm zum Verzicht auf die Blumen, etwas wie der Gedanke, dass man die Champagnerkorken nicht vor dem Sieg knallen lässt.
    Um zehn vor vier postierte er sich an genau der Stelle, an der er Anis eingeholt hatte, auf dem Bürgersteig. Um fünf nach vier fühlte er sich mutterseelenallein zwischen all den hin und her eilenden Passanten. Er bohrte die Hände in die Jackentaschen, um sich nicht zu ohrfeigen.
    Um sieben nach vier kam Anis, sie wirkte noch verlorener als er.
    »Guten Tag«, sagte Van wie ein Fünfzehnjähriger.
    »Nochmals guten Tag.«
    »Möchten Sie einen Grog?«
    »Lieber einen Tee.«
    Keinen Alkohol, übersetzte Van. Keine Erregung, kein Traum. Kein Lachen, keine Pläne.
    Sie gingen ins nächstgelegene Café. Ivan hatte das Gefühl, einen Satz rückwärts gemacht zu haben, es war, als wäre dies sein erstes Rendezvous mit Anis.
    »Sie sind freundlich zu mir, ich lade Sie ein«, sagte er, »und Sie lehnen ab. Ich versuche, nicht mehr zu viel an Sie zu denken, und Sie bringen alles wieder in Gang, und zwar um mir zu sagen: Nein, immer noch nicht. Ich kann das nicht ganz verstehen.«
    »Meinen Sie etwa, ich verstünde alles?« Anis wiegte ihren Oberkörper nervös vor und zurück.
    Sie redeten eine Viertelstunde miteinander, die ihnen vorkam wie eine Stunde, und berührten sich nicht einmal mit den Fingerspitzen.
    »Einverstanden?«, fragte Anis schließlich und stand auf.
    »Mit allem einverstanden«, sagte Van und stand ebenfalls auf. »Mit dem, was Sie möchten. Mit allem, was Sie möchten.«
    »Also«, sagte Anis. »Sie setzen sich wieder hin. Sie lassen mich hinausgehen. Ich habe es Ihnen versprochen, ich ziehe nicht um. Sie warten fünf Minuten, dann machen Sie sich auf den Heimweg.«
    Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und nötigte ihn, sich wieder zu setzen, dann drückte sie ihm einen scheuen Kinderkuss auf die Wange.
    »Bis morgen«, sagte Van.
    »Bis morgen.«
    Fünf Minuten später

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