Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
kennen. Wenn man nichts mehr versteht, außer dass man sich Illusionen gemacht hat, dann, weil man nicht mehr …« Er begegnete Francescas panischem Blick und versuchte zurückzurudern: »Dann hat sich die Lage …«
Sie fiel ihm ins Wort. Das sah ihr absolut nicht ähnlich, und Ivan war sicher, dass sie es nur getan hatte, damit er sich nicht noch weiter verhedderte.
»Genau«, sagte sie tonlos. »Wenn sich der Nebel der Illusion lichtet, wenn man den anderen sieht, wie er ist, und wenn man ihn nicht mehr für die eigenen Fehleinschätzungen verantwortlich macht, wenn es einem überall wehtut und kalt ist, ist man dann nicht endlich in einer Lage, in der man sich gegenseitig verstehen müsste? Müsste man dann nicht fähig werden, einander zu verstehen?«
»Man muss es natürlich auch wollen«, sagte Van.
Doch er selbst wollte unbedingt verstehen, was Anis bewog, sich ihm zu nähern beziehungsweise sich von ihm zurückzuziehen, und er konnte es nicht herausfinden. Er fasste sich wieder.
»Nein, das reicht auch nicht immer. Vielleicht müssen es beide wollen und beide zur selben Zeit, jeder müsste den anderen zu verstehen versuchen, während dieser ihm hilft und ihm zum Beispiel den Schlüssel gibt.«
»Die Schlüssel«, korrigierte Francesca.
Am Tag darauf schob sie gerade die Rücken der englischen Bücher zurecht, als sie auf die Prognosen ihres Mannes zurückkam.
»Sie haben den Eindruck, dass er unserer Buchhandlung gleichgültig gegenübersteht. Bei genauerem Nachdenken bin ich mir da nicht so sicher. Ich glaube, dass er sich unser Scheitern wünscht und dass er umso liebenswürdiger zu Ihnen war, als er nur eins im Sinn hat: uns zu destabilisieren. Er hält die Welt der Geschäfte und der Unternehmen für sein ureigenstes Territorium. Er sieht es mit einer Art Eifersucht, dass ich mich in dieses Abenteuer stürze, obwohl er in keiner Hinsicht darunter zu leiden hat, so wie er auch eifersüchtig wäre, wenn ich jemand anderen liebte, auch wenn er dadurch nichts verlöre, denn er liebt mich schon lange nicht mehr.
Sie kennen ihn nicht. Er ist durchtränkt von der französischen Boshaftigkeit, der grausamsten von allen, nach der englischen natürlich, und mit großem Abstand, das gebe ich zu.«
Es war so weit, sie mussten anfangen, die Romane zu lesen, die im September erscheinen sollten.
»Ein Himalaja«, verkündete Van. »Vierhundertvierzig französische Romane, zweihundertzwanzig ausländische.«
»Alle schon gedruckt?«
»Ja, mehr oder weniger. Vor fünfzehn oder zwanzig Jahren wurden die Bücher im Juli an die Kritiker geschickt, manchmal sogar erst im August. Doch die Zahl der Urlaubstage hat sich verdoppelt, man muss sie irgendwann auch nehmen, ein Problem, das alle gleichermaßen trifft, sogar die Kritiker. Die Conciergen hatten keine Lust mehr, all die Pakete, die der schweigsame Herr aus dem sechsten Stock im Juli erhielt, in ihrer Loge zu stapeln. Seit drei, vier Jahren verschicken die Presse-Abteilungen ihr Material schon Ende Juni, bevor die Damen und Herren Kritiker zu fernen Gestaden aufbrechen.«
»Wir haben nichts bekommen.«
»Wir haben ja auch um nichts gebeten. Sie wissen doch, als wir angefangen haben, die Bestellungen aufzugeben, haben wir von einer Eröffnung am Jahresende gesprochen. Jetzt sollten wir die Verlage noch einmal kontaktieren. Wir werden ihnen eine frühere Eröffnung ankündigen, schon für den September, und sie bitten, uns Einblick in ihre Herbst-Neuerscheinungen zu gewähren und uns Leseexemplare zuzuschicken.«
»Werden sie es tun?«
»Ich bezweifle es.«
»Wieso?«
»Wir sagen: ›Unsere Buchhandlung wird im September eröffnet, es wird eine sehr literarische Buchhandlung.‹ Die Person am anderen Ende der Leitung hat uns schon unterbrochen: ›Wir setzen Sie auf die office -Liste.‹ ›Nein‹, sagen wir – ich kann die Anrufe übernehmen, ich kenne den Dialog auswendig, ich habe ihn jahrelang in Méribel geprobt. ›Nein, am office haben wir kein Interesse. Wir möchten lieber Leseexemplare, Fahnenabzüge wären uns auch recht, um dann die Bücher auswählen zu können, die wir für unsere Buchhandlung möchten.‹ Glauben Sie mir, Francesca, das Wort ›auswählen‹, das einem auf den ersten Blick völlig legitim erscheint, löst am anderen Ende unfehlbar Schweigen aus. Danach gibt es zwei mögliche Reaktionen. Entweder, und das ist die günstigste, man sagt: ›In Ordnung, Sie bekommen Besuch von jemandem aus unserem Hause.‹ Und dann kommt
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