Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Bilanz vorzulegen.«
»Eine spektakuläre.«
»Was sonst?«
»Und dann haben Sie Ihren Auftritt.«
»Genauso wenig wie jetzt. Erfolg ändert nichts am Image einer reichen Frau, im Gegenteil.«
25
A m 30. Juni, kurz vor Mitternacht, rief Anis an. Van war zu Hause, womit sie wohl rechnete.
» Voilà «, sagte sie. »Ich bin in Paris.«
»Wo in Paris?«, fragte Van hastig.
»Bei mir zu Hause.«
Sie habe ein Zimmer in einem kleinen Studentenwohnheim im Quartier latin, sagte sie. Weitere Erklärungen gab sie nicht. Van verkniff sich wohlweislich jede Kritik.
»Wunderbar! Sehen wir uns?«
»Ja«, sagte Anis. »Jetzt ist es möglich. Das Zimmer war in ziemlich schlechtem Zustand. Ich habe zehn Tage schuften müssen, um es herzurichten. Seit heute Morgen ist es fertig. Ich hab’s geschafft.«
Zehn Tage, an denen Van sich Anis bei jedem Gespräch und bei jedem der sechzig Male, die er ihre Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abgespielt hatte, in Grenoble vorgestellt hatte, in ihrem Verschlag, auf dem Weg zur Uni oder in einem dieser Bistros, in dem es die unvergesslichen Grogs gab. Ich weiß es, denn er hat es mir erzählt.
Man provozierte ihn. Und er setzte alles auf eine Karte:
»Mein Pferd ist noch gesattelt«, sagte er. »Ich bin gerade erst angekommen. In einer Viertelstunde kann ich bei Ihnen sein.«
»Ihrem Pferd geht’s wie mir, es schläft im Stehen ein. Zäumen Sie es ab. Es ist spät. Ich habe Arbeit gefunden, ich muss sehr früh anfangen.«
Van schwieg ein paar Sekunden lang.
»Rufen Sie mich an, wenn Sie einen Moment Zeit haben«, sagte er dann etwas mechanisch.
»Eben«, sagte Anis. »Jetzt wo ich in Paris bin, hätte es wenig Sinn, Sie jeden Morgen und Abend anzurufen.«
Am nächsten und am übernächsten Tag, dem 1. und dem 2. Juli, hörte Van nicht das Geringste von ihr.
Am Samstag, dem 3. Juli, rief sie ihn in seinem Atelier an. Um zehn. Van hatte sich ausgerechnet, dass sie diese Uhrzeit abwarten würde, um ihm besonders herzlich einen Guten Morgen zu wünschen, weil sie vermutete, dass dieser Wunsch nur vom Anrufbeantworter entgegengenommen würde. Er ließ ihr gerade genug Zeit, ihren Namen zu sagen, dann nahm er ab.
Sie trafen sich am frühen Nachmittag auf dem Pont Marie. Auf Anis’ Vorschlag hin, denn sie kannte Paris nicht und wollte mit dem Bekanntesten anfangen.
»Die bekannteste Eisdiele von Paris ist Berthillon. Da, sehen Sie.«
Sie aßen weißes und rosa Sorbet, spazierten über die beiden Inseln, am Ufer entlang bis zum Square du Vert Galant, durchschritten Notre-Dame und ruhten sich dann Seite an Seite auf einer Betonbank vor der Kathedrale aus.
»Ich fühle mich ja so wohl ohne meinen blauen Pullover«, sagte Van. »Ich erstickte schon fast darin. Nun habe ich ihn weggeworfen und kann wieder atmen.«
Anis tat, als hätte sie nichts gehört.
»Einen Ort gibt es, den möchte ich unbedingt bald sehen«, sagte sie. »Können Sie sich vorstellen, welchen?«
Van verzog das Gesicht. »Jedes Mal, wenn ich mir im Zusammenhang mit Ihnen etwas vorstelle, irre ich mich.«
»Na …«
»Die Buchhandlung?«
» Der gute Roman ?« Anis lächelte belustigt. »Da war ich schon. Nein. Sie haben verloren.«
»Das ist mir schon seit Langem bewusst, glauben Sie mir. Ich sage nichts mehr.«
»Diese Uferbefestigungen, die Brücken … Können Sie es sich wirklich nicht denken? Dabei ist es ganz selbstverständlich. Ich würde gern die Wandbemalung in Ihrer Wohnung sehen.«
»Morgen«, erwiderte Ivan hastig, ohne zu wissen, woher ihm die Eingebung zu dieser Antwort kam.
Kaum hatte Anis am Sonntag das Atelier betreten – es war drei Uhr nachmittags –, da versenkte sie sich auch schon in eine ernste und schweigende Betrachtung der Wände. Jetzt erst verstand Ivan, warum er diese Prüfung um einen Tag verschoben hatte. Hier geschah etwas Entscheidendes, das und übrigens auch die Naivität seiner Malerei wurde ihm mit solcher Deutlichkeit bewusst, dass er zum Fenster ging und die Stirn an die Scheibe drückte, unfähig, etwas anderes zu tun, als auf die grausam verlangsamten Schläge seines armen Herzens zu lauschen.
»Ich mag es sehr«, hörte er Anis hinter sich sagen.
Ich mag Sie sehr. Der Satz, mit dem man jemandem sagt, dass man ihn nicht liebt. Van hatte diesen Satz oft ausgesprochen.
Doch Anis verlangte bereits danach, das Gemälde mit dem Original vergleichen zu können.
Sie war ganze fünf Minuten da, überlegte Van, als er hinter ihr die Treppe hinunterging. Er hatte
Weitere Kostenlose Bücher