Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
bis tief in die Nacht in seiner Wohnung geschrubbt und gewienert und eine Platte mit Kuchen bereitgestellt, mit den Kuchen aus dem Kinderlied über den verliebten Bäcker, der seine Angebetete auch mit den schönsten Cremestückchen nicht betören kann und weint wie ein alter Liebesknochen.
Es herrschte strahlendes Wetter. Sie gingen zu Fuß zum Pont de la Concorde, über die Rue du Faubourg Montmartre, die großen Boulevards und an der Madeleine vorbei. Von der Brücke aus sah Anis auf die schwer und träge dahinfließende Seine hinunter.
»Wo ist der Port des Invalides?«, fragte sie.
»Woher soll ich das jetzt noch wissen?«, sagte Van. »Das ist für mich eine uralte Geschichte. Da gehe ich gar nicht mehr hin. Nein, die Gegend von Paris, die mich jetzt interessiert, ist das Quartier latin.«
»Ach, wo wir gerade davon sprechen«, sagte Anis. »Wissen Sie, ob die Kirche der Sorbonne sonntags geöffnet ist? Diese Woche war sie geschlossen. Ich dachte, vielleicht ist sie sonntags …«
Ivan hatte keine Ahnung.
»Sehen wir doch nach«, sagte er. »Der direkteste Weg von hier zum Boulevard Saint-Michel ist der Bateaubus.«
Der direkteste nicht unbedingt, aber auf jeden Fall der langsamste. Sie warteten auf das Linienschiffchen, ließen sich von der Sonne bescheinen und atmeten den irgendwie bretonischen Geruch nach Hafenwasser ein.
»Sie haben sich also die Buchhandlung angeschaut?«, fragte Van.
»Zum Glück ist die Rue Dupuytren nicht lang, und es gibt nur ein Ladenlokal, das gerade renoviert wird. Von außen kann man durch diesen weißen Anstrich auf den Fenstern gar nicht erraten, welche Art Geschäft dort eröffnet werden soll. Wann wollen Sie Farbe bekennen?«
»Bei der Eröffnung Anfang September. Um acht Uhr wird das Ladenschild hochgezogen, und um zehn eröffnen wir.«
Er holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.
»Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen die Räume. Wann immer Sie mögen.«
»Ich werde bis zur Eröffnung warten wie alle anderen auch.«
»Francesca ist nicht den ganzen Tag über da. Und selbst wenn sie da wäre, würde sie Sie herzlich empfangen. Sie ist eine gute Fee.«
»Ich hab’s schon verstanden«, sagte Anis. »Aber ich warte lieber.«
Der Bateaubus näherte sich. Weiß und glänzend wie ein neues Spielzeug stach er aus all den schmutzigen Booten und alten Kähnen heraus. Und legte dann so sanft an, als würde er von einem Künstler ferngesteuert.
Die Sonne stand schon tief, ihr Licht trieb auf dem Wasser.
Vom Port Saint-Michel aus brauchten sie zehn Minuten, um über die von trödelnden Touristen verstopften Bürgersteige bis zur »Chapelle de la Sorbonne« zu gelangen, doch die war geschlossen.
Es gab keinerlei Hinweisschilder, keine Öffnungszeiten, nichts.
»Ich frage mich, ob sie überhaupt noch benutzt wird«, sagte Van.
»Möchten Sie mein Zimmer sehen?«, fragte Anis. »Es ist nicht mehr weit.«
»Warum nicht? So erfahre ich auch Ihre Adresse.«
Wenn Anis lachte, bekam sie auf ihrer linken Wange ein Grübchen, nur auf der linken.
»Ich bleibe nicht lange«, kündigte Van an. »Mir geht’s wie Ihnen, was solche Zimmer angeht … Zwischen vier Wänden fühl ich mich schnell eingeengt.«
Anis ging nicht darauf ein. Ihr Zimmer war in der Rue du Bol-en-Bois Nummer 44, im fünften Stock eines Gebäudes aus den Siebzigern, grau, Glas, blau. Das Zimmer war hell und roch nach frischer Farbe, obwohl die Tür zum Balkon weit offen stand.
Van trat sofort auf den Balkon hinaus, die Aussicht auf belaubte Äste zog ihn an. Unten lag ein kleiner Garten. Anis war ihm gefolgt und stützte sich jetzt neben ihm auf das Geländer.
»Damit rechnet man gar nicht, oder?«
»Sehen Sie, Sie hätten Grenoble schon früher verlassen sollen. Hier haben Sie es viel besser. Ich mit meinem Auslug auf den Ahorn, und Sie mit Ihrem auf die Ulme, Sie werden Paris noch für einen Park halten.«
Er betrachtete den Abstand zwischen seinem linken und Anis’ rechtem Ellbogen, der etwa einen Meter betragen mochte. Als er sich zuletzt in der Nähe dieses Arms befunden hatte, auf der Bank vor Notre-Dame, war es ziemlich genau der gleiche Abstand gewesen.
Positiv denken, ermahnte sich Van. Wenn er genau hinschaute, sah er, dass sich die Distanz zwischen Anis und ihm innerhalb von vie rundzwanzig Stunden um einen guten Millimeter verringert hatte. Wenn es bei einem Millimeter pro Tag blieb, würde sich der Abstand seiner Rechnung nach binnen tausend Tagen auf null reduzieren. Er dachte an eine
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