Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
ins Exil gehen müssen und schließlich, nachdem er sich in Damaskus und dann in London niederzulassen versucht hatte, Zuflucht in Paris gefunden, bei einem entfernten Cousin, der lebenstüchtiger war als er und in der Nähe der Metrostation La Fourche ein orientalisches Restaurant eröffnet hatte. Dieser Cousin gab ihm ein paar Sou dafür, dass er dem Restaurant kulturellen Glanz verlieh, indem er Musiker, Tänzer und Geschichtenerzähler engagierte – die es in der Diaspora in Hülle und Fülle gab. Yassin al-Hillah war sehr auf zusätzliche Einkünfte angewiesen, und als er von einem Oud-Spieler, dessen Schwager zufällig Hauswart des Gebäudes war, in dem Francesca wohnte, erfuhr, es werde jemand zum Putzen einer Buchhandlung gesucht, hatte er sich sofort gemeldet.
Francesca war zunächst entsetzt, als sie entdeckte, mit wem sie es zu tun hatte. Sie könne doch keinen Intellektuellen als Putzmann anstellen. Doch Yassin erklärte ihr in einem höchst gewählten und blumenreichen Französisch, eine der größten Qualen seines Exilantendaseins sei, dass er nur noch selten Zugang zu Büchern habe – zu vielen Büchern, präzisierte er. Und dann schlug er ihr einen maßgeschneiderten Vertrag vor. Er würde die für das Putzen der Buchhandlung erforderlichen zwei Stunden ableisten, vor acht Uhr natürlich, doch dafür bitte er sich aus, deutlich früher als um sechs in die Buchhandlung kommen zu dürfen, um dort zu lesen. »Mehr Bezahlung brauche ich nicht«, sagte er. Doch in diesem Punkt blieb Francesca hart.
Van hatte Francesca schonend vorbereitet.
»Ich bin sicher, wir haben Erfolg, das wissen Sie, ich habe es Ihnen oft genug gesagt. Doch dieser Erfolg setzt nicht unbedingt gleich ein. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass wir nur langsam bekannt werden. Wir werden mehrere sehr ruhige Wochen überstehen müssen, vielleicht sogar Monate.«
»Sie haben meinen Plan für unseren großen Auftritt vergessen.«
Ivan lächelte, doch mit gerunzelter Stirn.
»Ich bin von den modernen Werbemethoden nicht sonderlich überzeugt, auch das habe ich Ihnen schon oft gesagt. Ich glaube, bei einem solchen Unternehmen kommt es auf echte Mundpropaganda an, die braucht Zeit.«
»Kann Mundpropaganda nicht auch sehr schnell wirken?«
»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Darüber habe ich noch nie richtig nachgedacht.«
»Wenn Sie die Mundpropaganda zum entscheidenden Faktor machen, übertragen Sie dann nicht das auf unseren Guten Roman , was Sie über gute Romane im Allgemeinen wissen? Ich meine den im Allgemeinen zunehmenden Wirkungsgrad des Aufsehens, das ein Buch erregt?«
»Ja, vermutlich.«
»Aber Sie wissen doch auch, dass es manchmal sehr schnell geht. Es gibt Verkaufserfolge, die in wenigen Wochen erreicht werden.«
»Dann haben die Verlage schon Monate vorher die Werbetrommel gerührt.«
»Nicht immer. Hören Sie, Van, wir werden ja sehen. Was hat es für uns schon zu bedeuten? Ich will einfach nur, dass Der gute Roman bekannt wird, und zwar als das, was er ist, in seiner Besonderheit und mit der ganz besonderen Wette, die dahintersteht. Aber ob es nun drei oder sechs Monate dauert, ist mir ziemlich egal. Ihnen etwa nicht?«
»Doch. Ich wollte Sie nur vorwarnen. Was haben wir heute? Donnerstag? In vier Tagen eröffnen wir. Am Montag um zehn Uhr werden Sie ganz konkret die Tür öffnen. Und dann passiert nichts. Das war es, worauf ich Sie vorbereiten wollte. Niemand kommt. Stellen Sie sich vor: Schönes Wetter, wir sind in der Buchhandlung, beide schrecklich aufgeregt. Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen. Und niemand kommt. Ich übertreibe. Acht oder zehn Neugierige werden sich vielleicht als Touristen bei uns umschauen. Drei oder vier werden ein Buch kaufen. Ein oder zwei werden uns Fragen stellen, die Sie sehr enttäuschen werden. Haben Sie schon lange auf? Führen Sie keine DVDs?
Dann wird es langsam Abend. Wenn wir, wie vorgesehen, erst um zehn Uhr abends schließen, wird sich der Abend unendlich hinziehen. Dann werden wir schweren Herzens auseinandergehen, und was uns so auf der Seele liegt, ist das Gefühl, das man in neun von zehn Fällen hat, wenn sich ein sehr erhoffter Traum verwirklicht, dieses Gefühl, das wir beide gut verbergen werden, dieses banale und tragische: Und das soll schon alles gewesen sein? Weiter nichts?«
Am Freitag, dem 27., stand Ivan früh auf. Dabei gab es nicht mehr viel in der Buchhandlung zu tun. Alles war an seinem Platz, die Bücher, die rosshaarbezogenen Bänke, die
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