Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
und in der Portiersloge ein Brieflein von ihr vorzufinden. Sie wollte ihr Studium im Herbst fortsetzen. Ob in Paris, hatte Ivan nicht zu fragen gewagt.
Jeden Tag, meistens gegen Abend, verbrachte er mehrere Stunden in der Buchhandlung. Fast alle Romane der Hauptliste waren eingetroffen, viele davon gleich doppelt. Es fehlten nur noch etwa zwanzig Werke, die nirgends aufzutreiben waren. Francesca ließ den noch ungenutzten Teil der Buchhandlung renovieren, wobei die Räume im Erdgeschoss lediglich gestrichen und in den Kellerräumen nur die Böden gefliest und die Wände gekalkt wurden.
Ende Juli waren diese Arbeiten beendet. Die Reserveexemplare der Bücher wurden im Keller untergebracht. Francesca fuhr für einige Tage zum Ortasee, wo sie ein Haus besaß, um ein wenig zu lüften, wie sie sagte. »Nur ein Scherz«, setzte sie hinzu. »In meiner Kindheit verbrachte ich jedes Jahr die Ferien in diesem Haus. Für mich ist ein Sommer nur ein richtiger Sommer, wenn ich wenigstens einige Nächte dort verbringe. Das Haus liegt direkt am Wasser, von meinem Schlafzimmer aus höre ich es die ganze Nacht plätschern.«
Sie wolle das Haus für englische Freunde vorbereiten, die dort den Sommer über wohnen sollten. »Auch nur ein Vorwand«, sagte sie. »Das Haus ist immer bereit.«
Am Montag, dem 16. August, kam sie nach Paris zurück. Die Eröffnung der Buchhandlung sollte am 30. stattfinden, ebenfalls einem Montag. Bis dahin wollte Francesca sämtliche Vorbereitungen überwachen, um allen Verzögerungen und Komplikationen vorzubeugen.
»Wann wollen wir die Presseleute zum Essen einladen?«, fragte Ivan. »Wir müssten uns allmählich darum kümmern.«
»Ich habe es mir überlegt«, antwortete Francesca. »Ich kann mir eigentlich nicht mehr vorstellen, dass Sie woanders als in der Buchhandlung mit den Journalisten sprechen, und noch weniger, dass Sie es vor der Eröffnung tun, sozusagen nur als Trockenübung. Was wir vorstellen wollen, ist ein Ort, ein Ort voller Leben und mit einem Geist. Kurzum: Ich denke mir diese Gespräche in der Buchhandlung und nach der Eröffnung.«
Van wirkte verblüfft.
»Überlassen Sie es mir«, sagte Francesca. »Ich habe da eine Idee. Vertrauen Sie mir?«
In Anis’ Brief über Paulhan stand ein Wort, das Ivan nicht mehr aus dem Kopf ging, die »Gründe«, die, wie sie schrieb, eine junge Frau für ihr unverständliches Verhalten haben konnte. Als er sich ihr Bild ins Gedächtnis rief, so klein, mit Kinderaugen und -wangen, glaubte er, die Lösung gefunden zu haben. Die Angst. Die alte Angst vor dem bösen Wolf, die eigentlich so normal, aber heutzutage schwer einzugestehen ist.
An einem Abend Mitte August, als er sie in die Rue du Bol-enBois zurückbegleitet hatte und sie ihm mit ihrer gesamten Körpersprache zu verstehen gab, sie gehe davon aus, dass er dableiben würde, unten vor der Tür – nach der ersten Besichtigung hatte sie ihn nie wieder in ihr Zimmer eingeladen –, nahm er sie fest in die Arme und sagte: »Aber Ihre ganze Zurückhaltung ist nicht vielleicht Angst? Ich bin doch nicht der Erste, der sich Ihnen zu nähern versucht?«
Sie schluchzte tief auf und wich zurück. »Nein«, keuchte sie und schluchzte wieder, als sei dieses Geständnis etwas Furchtbares. Er versuchte, sie zu trösten: »Das macht doch nichts.« Ihre Augen waren voller Vorwurf, als sie zu ihm aufblickte.
Danach fragte er sich unablässig, womit er diesen Vorwurf verdient habe. Er sagte mir später, er habe einfach die Gründe für dieses ständige Zurückschrecken nicht verstanden.
Am Montag, dem 23. August, nahm Oscar seine Arbeit im Guten Roman auf. Er war leidenschaftlicher Anhänger dieses Projekts. Viele der Bücher in den Regalen kannte er schon, und er war wild entschlossen, alle übrigen zu lesen. Francesca schien ihn keineswegs einzuschüchtern, obwohl sie ihn um fünfzehn Zentimeter überragte. Van hielt es für besser, ihn nicht zu fragen, ob er seinen Roman abgeschlossen habe.
Francesca stellte noch jemanden ein. Die Buchhandlung musste täglich geputzt werden, genauer nächtlich, denn während der Öffnungszeiten ging es nicht, und in Anbetracht von Ivans morgendlichen Gewohnheiten musste es möglichst vor acht Uhr geschehen. Francesca einigte sich mit einem vierzigjährigen Iraker, dessen schönes, ausgezehrtes Gesicht den abgeklärten Intellektuellen verriet. Vor dem Sturz Saddam Husseins war er Professor mit dem Forschungsgebiet mittelalterliche Musik und Dichtung gewesen. Er hatte
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