Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
beruhigte und ihr sagte, sie falle nicht unter die geläufigen Kategorien, er vergleiche sie mit niemandem. Und er hatte nichts gesagt.
Er zückte sein Handy und tippte im Weitergehen Anis’ Nummer ein. Er geriet an den Anrufbeantworter. »Ich auch nicht«, sagte er. »Ich bin auch nicht fürs Überstürzen. Ich habe es nicht eilig. Die Erzählung, die ich von Jean Paulhans Werken am liebsten mag, heißt Fortschritt des Herzens . Sie ist nur eine Seite lang. Ich schicke sie Ihnen, und Sie sagen mir, was Sie davon halten.«
Er unterbrach sich. »Wenn Sie möchten«, setzte er hinzu. »Es steht Ihnen selbstverständlich frei, mir nicht zu sagen, was Sie davon halten.«
26
U nd tatsächlich sprach Anis nicht mit Van über Paulhans Erzählung. Sie beantwortete seine Buchsendung postwendend – mit der Post.
Diese Novelle ist schön, aber sie ist unvollständig. Mich interessiert, was danach kommt. Wird Albert klug und einfallsreich genug sein, um Rose zu beschwichtigen? Er glaubt ja, die Zeiten, die sich geändert haben, hätten auch Rose’ Einstellung geändert – und wenn er sich fragen würde, was sie zurückhält? Ob sie Gründe hat? Und wird Rose ihrerseits aus ihrer Ambivalenz herausfinden? Denn Paulhans letzter Satz ist Spott: Er macht aus ihr eine viktorianische Gans, er versucht gar nicht erst zu verstehen, wieso eine aufrichtige junge Frau einem Mann zärtliche Gefühle entgegenbringen kann und zugleich vor ihm zurückweichen muss.
A.
Sie hatte nur mit diesem Buchstaben unterschrieben. Van sagte mir, das habe ihn verletzt. Er las daraus ein Abstandnehmen von seiner Person, die Verringerung der Zuneigung, die ihm entgegengebracht wurde. Mit anderen Worten, er zweifelte an sich selbst. Er hätte auch Vertrautheit daraus lesen können, etwas wie: Ich bin’s, wer sonst?
In diesem Sommer, im Jahr 2004, trafen sie sich sieben oder acht Mal, manchmal auch am Wochenende. Keine festen Zeiten, sagte Anis, das erstickt. Auch nicht jedes Wochenende. Van hätte dasselbe gesagt, wenn er die Spielregeln festgelegt hätte. Aber dieses Mal war nicht er Meister des Spiels – obwohl er es in der Vergangenheit oft gewesen war, indem er den Anschein erweckte, er sei es eben nicht, und zu Beginn die junge Dame auf sich zukommen und denken ließ, sie ergreife die Initiative, um dann nach und nach das Kräfteverhältnis umzukehren und in ausweichenden Antworten und Andeutungen derjenige zu sein, der das Tempo vorgab, es verschleppte und schließlich das Signal zur Trennung gab. Er stellte keine Fragen mehr, nein. Er erfuhr nie, worin Anis’ Job bestand, der drei Juliwochen dauerte und nach einer Pause durch einen anderen ersetzt wurde – doch von diesen Veränderungen erfuhr Van erst im Nachhinein.
»Irre ich mich«, fragte Heffner sehr neutral, »oder darf ich in Anbetracht dessen, was Sie über Ihre Bindungsunfähigkeit sagten, die Vermutung wagen, dass das verhaltene Tempo dieser Beziehung für Sie ein Grund war, ihr Chancen auf Dauer zu geben?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Van. »Doch. Sie irren sich nicht. Wahrscheinlich ist es so.«
Er selbst hatte sehr viel zu tun. Die Bücher trafen zögerlich ein, er musste noch Bestellungen aufgeben. Er machte eine Webmaster-Ausbildung, die er amüsant fand, aber trotzdem ernst nahm. Und er las seinen Anteil der nach den Sommerferien erschienenen Romane, die Lancre und Bonlarron pausenlos in der Rue Dupuytren abgaben. Er überflog zehn am Tag, von denen er im Durchschnitt einen aussuchte, den er am selben Tag vollständig zu lesen versuchte. Denn am nächsten Tag ging es wieder los: zehn Romane, von denen – dem Himmel sei Dank – nur wenige eine vollständige Lektüre und noch weniger eine bevorzugte Behandlung verdienten.
Für die Buchhandlung suchte er Letzte Liebe von Christian Gailly aus, ein Buch, das ihn begeisterte, Sous réserve , einen Erstling von Hélène Frappat und unter den ausländischen Büchern die Erzählungen von Roberto Bolaño. Francesca fand Gefallen an Antonio Tabucchis Tristano stirbt , an La Réfutation majeure von Pierre Senges und vor allem am vollständigen Briefwechsel von Segalen, der nun endlich veröffentlicht worden war.
Ivan hatte ihr nichts von Anis’ Umzug nach Paris gesagt. Er hatte ohnehin keine Reisepläne für den Sommer gehabt, doch selbst wenn, hätte er alles abgeblasen. Anis allerdings schloss einen kleinen Tapetenwechsel nicht aus, gab aber keine weiteren Erklärungen dazu ab. Van rechnete jeden Tag damit, ihr Nest leer
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