Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
um sich das Ganze mal anzusehen, und sie trauten ihren Augen nicht: Schon seit Jahren träumten sie von einer Buchhandlung wie dem Guten Roman . Alle sagten sie das Gleiche. Sie lasen ausschließlich Romane, und daran fehlte es ihnen nicht etwa, sie hatten sie stapelweise auf Vorrat liegen, am Fußende ihres Bettes oder auf dem Flursofa. Doch in Buchhandlungen fühlten sie sich unwohl, und sie verließen sie meist in einer Missstimmung, die sie selbst als übertrieben empfanden, und ohne etwas zu kaufen: Sie bekamen kaum Luft, irgendetwas störte, oder sie konnten sich nicht orientieren; was eigentlich ziemlich seltsam war bei Menschen, die nichts lieber taten, als abends bis zur Trance zu lesen und dabei jedes Zeitgefühl zu verlieren, die an ihren Knöchelbruch und die sich daran anschließenden zwei Monate Ruhigstellung zurückdachten wie an ein goldenes Zeitalter, die ein Roman über alles hinwegtrösten konnte – die aber selten in Buchhandlungen gingen.
»Mir ging’s genauso«, sagte Oscar. »Ivan auch. Deshalb haben wir die Buchhandlung aufgemacht, die wir brauchten.«
Dieser Junge hatte etwas Unwiderstehliches an sich, Van brauchte den ganzen Vormittag, bis er es erkannt hatte. Es war nicht nur seine schlanke Gestalt, sein Zöpfchen, das weiße Stehkragenhemd, das sich so schön von seiner dunklen Haut abhob. Nein, und die Erkenntnis traf Van wie ein Blitz: Oscar scherte sich den Teufel um den Verkaufserfolg. Genauer gesagt, das war etwas, woran er gar nicht dachte. Wenn ein Kunde ein langes Gespräch mit einem »Ich denke, ich nehme dieses hier«, das fast klang wie ein »Tut mir leid, ich muss jetzt weiter« beendete, dann schien Oscar aus einem Traum aufzutauchen, er lächelte und sagte: »Eins meiner Lieblingsbücher.«
Die Buchhandlung war bis zum Abend voll, Leute aller Art, Männer und Frauen jeden Alters, die etwas gemeinsam hatten, was Ivan ebenfalls nicht auf Anhieb identifizieren konnte. Etwas, das eine Erklärung für ihre Ruhe gab, die sie bewahrten, auch wenn sie ihren Mitmenschen ständig zwischen den Regalen ausweichen mussten, nicht gleich zum angestrebten Regal vordringen konnten und vor der Kasse anstanden: Der wirtschaftliche Bezug ihres Kaufs stand nicht im Vordergrund, sie empfanden es nicht als Geldausgabe, sondern schon fast als eine Art Gewinn, wie bei einem Wohltätigkeitsbasar, bei dem man ja auch nicht möglichst billig einkaufen möchte, sondern sich ganz im Gegenteil von dem befreit, was einen am meisten beschwert, und im Austausch reine Freude erhält.
Anis kam am Nachmittag vorbei. Van hatte sie nicht hereinkommen sehen. Er war an der Kasse, und mit einem Mal stand sie vor ihm, hinreißend jung und rosig und mit Grace Paleys Ungeheure Veränderungen in letzter Minute in der Hand.
»Möchten Sie eine Treuekarte?«, hörte Van sich fragen.
Er hatte gar nicht daran gedacht, so etwas einzuführen, diese Idee kam ihm jetzt erst, aber an diesem Nachmittag fühlte er sich imstande, alles durch bloßes Fingerschnippen herbeizuzaubern.
»Ach, die hat man ja doch nie dabei, wenn man sie braucht.« Anis lachte freundlich. »Und man verlegt sie ständig. Für mich ist das nichts.«
Als hätte man mit dem Fingernagel über die Borke einer Eiche gekratzt. Van empfand keinerlei Schmerz. Ein winziger, in einen Brecher geschleuderter Stein. In der Buchhandlung rauschte es still wie in einem Wald, die Menschen sprachen leise oder gar nicht, die Flut stieg an, rollte zurück und stieg wieder an.
»Trink einen Schluck«, drängte Oscar.
Er hatte ein Tablett auf die Ladentheke gestellt: eine ganze Riege von Gläsern mit Fruchtsaft und eine Platte frischer Makronen, die nun schon seit Stunden ständig aufgefüllt wurde. Ivan sollte nie erfahren, wer dieses Wunder der Makronenvermehrung vollbrachte, aber solche Fragen stellte er sich schon lange nicht mehr.
Keinen Augenblick lang wirkte Oscar überfordert oder erschöpft. Die ganze Zeit lag ein entwaffnend triumphierendes Lächeln auf seinem Gesicht, und als Ivan ihn gegen neun Uhr abends, als es ein wenig leerer wurde und sie zufällig nebeneinanderstanden, dazu beglückwünschen wollte, kam ihm Oscar zuvor. »Weißt du, wie du mir heute den ganzen Tag lang vorgekommen bist?«, fragte er. »Wie ein Musiker, der schon seit Jahren auf seinen Augenblick gewartet hat und eines Tages auf sein Publikum trifft, fantastisch spielt und – wie von einer Euphorie getragen – weiß, dass sein Leben von diesem Augenblick an nicht mehr dasselbe
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