Der Zauber des Engels
ihn so fragen, dass er keinen Verdacht schöpft, warum du dich ausgerechnet an ihn wendest. Und denk dran, selbst wenn Lisa noch spät unterwegs war, beweist das gar nichts. Sie kann kommen und gehen, wann sie will.«
»Stimmt. Aber es wäre schon ungewöhnlich, wenn sie an einem Montagabend um elf noch draußen war.«
»Vielleicht war sie in der Disco? Oder hatte einen Job?«
»Ja, vielleicht.«
Wir unterbrachen das Gespräch, um einen Kunden zu bedienen. Dann kamen die Glaser, und wir mussten die Schaufensterauslagen, die wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben waren, wegräumen. Anschließend half ich Amber bei den Fenstern für die Armitage-Kinder. Sie wurden richtig schön. Mit Zacs Hilfe hatte Amber die Glasstücke ausgeschnitten. Jetzt zeigte ich ihr unter dem Gehämmer, das aus dem Laden zu uns drang, wie man lange Streifen weichen Bleis dehnte, indem man ein Ende in einem Schraubstock befestigte und am anderen Ende vorsichtig zog. Dadurch wurden sie gerader und somit leichter zu verarbeiten. Zac und ich würden es für sie zusammenlöten müssen, weil man das unbedingt ganz sorgfältig machen musste und sie, wie jede Anfängerin, noch viel mit dem geschmolzenen Metall herumkleckerte. Auf jeden Fall war sie ganz begeistert, dass wir sie so viel selbstständig machen ließen.
»Früher habe ich meiner Mom immer geholfen, Weihnachtsschmuck zu basteln«, erzählte sie, als wir anfingen, die Glasteile in die Bleistreifen einzupassen. »Sie konnte die Wohnung nicht mehr verlassen, und daher war das ihr Job während des ganzen Jahrs, sogar an Ostern. Jede Woche kam ein Typ mit Kisten voller Dekomaterial – Glasperlen, Goldfäden und Lametta –, und sie setzte es zu glitzerndem Schmuck zusammen. Die fertigen Sachen hat er dann wieder mitgenommen. Manchmal, wenn es Mom nicht gut ging oder ihre Finger ganz steif waren, bin ich nicht zur Schule gegangen, sondern zu Hause geblieben, um ihr zu helfen, weil sie Angst hatte, nicht genug Geld zu verdienen.«
Es war nicht das erste Mal, dass Amber etwas von ihrer Kindheit erzählte. Ich stellte mir das Mädchen sehr einsam vor – mit ihrer Mutter allein in der Wohnung in einem trostlosen Hochhaus an der Commercial Road, inmitten von veraltetem Weihnachtsschmuck. Aber immer, wenn sie davon sprach, klang sie ein bisschen wehmütig, so als wäre es eine verlorene Zeit des Glücks.
»Was war denn mit deinem Dad?«, fragte ich.
»Ich habe ihn nie kennengelernt«, antwortete sie. »Meine Eltern haben sich in der Arztpraxis kennengelernt. Das war, bevor Mom multiple Sklerose bekam. Sie hat mal gesagt, die Begegnung mit ihm wäre das Romantischste gewesen, was sie je erlebt hätte. Er hatte ihr die Tür zum Sprechzimmer aufgehalten, und am Ende war sie in der Limousine seines Chefs nach Hause gefahren worden. Er war Chauffeur, musst du wissen. Ein Ägypter.«
Ich lächelte. »Das erklärt also, warum du so schöne schwarze Haare hast.«
»Ja. Amber war der Name seiner Mutter. Aber es hat irgendwie nicht funktioniert mit den beiden. Er hatte Sehnsucht nach Ägypten, und Mom wollte nicht mit ihm gehen. Dann fand sie heraus, dass er schon verheiratet war. In Ägypten ist das so üblich, dort darf man mehrere Ehefrauen gleichzeitig haben, aber das kam für Mom natürlich nicht infrage. Also hat sie mich allein großgezogen.«
Ich konnte das alles kaum so schnell verarbeiten. Dann fragte ich Amber, ob sie danach je wieder etwas von ihrem Vater gehört habe. Sie schüttelte den Kopf.
»Ist das schlimm für dich?« Sofort musste ich an Zac und seine Olivia denken, aber Amber versicherte mir, dass sie kein Interesse an ihm habe.
»Er scheint sich ja auch nicht sonderlich für mich interessiert zu haben. Er hat uns nie Geld oder irgendwas geschickt. Er war einfach nur irgendein Typ, der …«
»… der zufällig dein Vater war«, ergänzte ich. Vielleicht würde irgendwann, wenn sie älter war und selbst Kinder hatte, eine Zeit kommen, wo sie mehr über ihn und ihre ägyptische Herkunft wissen wollte. Ich betrachtete Ambers hübsches herzförmiges Gesicht, die dunklen Augen mit dem dichten Wimpernkranz, die sanft im Schimmer des Leuchttisches glühten, und beneidete sie fast um ihre Sorglosigkeit. Dagegen schwirrten meine Familiengeheimnisse in mir wie ein böser Strudel, der mich unablässig in die Tiefe zog.
»Wie geht es deinem Dad eigentlich?«, fragte Amber. Ich spürte ihren aufmerksamen Blick auf mir, während ich die zerbrechlichen hellen Kreise, die die Zehen
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