Der Zauber des Engels
Stimme klang streng.
»Wann?«
»Gerade eben. Ich habe ihn vom Fenster aus gesehen. Den Glaskünstler.«
»Ah, Mr. Russell. Wir haben einen Spaziergang zur Westminster Abbey gemacht, das ist alles.«
»Warum hast du Polly nicht mitgenommen?«
»Weil sie viel zu tun hatte. Harriet, bitte halt mir keine Vorträge. Ich habe nichts Unrechtes getan.«
»Aber du weißt doch, was Vater gesagt hat. Du solltest vorsichtig sein.«
»Nicht du auch noch, Harriet. Ich habe mich anständig verhalten.«
»Mutter sagt, du seist auch in der Werkstatt gewesen. Allein. Laura, wir haben hier schon genug Probleme, ohne dass du die Familie in den Schmutz …«
»Ich weiß. Ich habe nichts Falsches gemacht. Er ist ein Freund, das ist alles.«
Sie wurden unterbrochen, als ihre Mutter mit einer Flasche Milch zurückkam, und wenig später hörte man nur noch Arthurs zufriedenes Saugen.
Ein Tag verging und noch einer, ohne dass Laura etwas von ihm hörte. Sie fühlte sich elendig. Am dritten Tag, als ihre Mutter sie bat, sie ins Krankenhaus zu begleiten, schnappte sie: »Kann denn nicht mal eine der anderen Frauen gehen?« Im nächsten Moment tat es ihr leid, und sie entschuldigte sich.
»Ich werde noch verrückt«, murmelte sie. Russells Anwesenheit irritierte sie, seine Abwesenheit besorgte sie. Was sollte sie nur tun?
Dann kam endlich ein Brief. Sie nahm ihn rasch von dem Tablett in der Diele, ehe ihre Eltern ihn sehen konnten, und lief damit in ihr Zimmer.
Meine liebste Laura,
Maria ist nun fertig gemalt, das Kind und die Putten sind ebenfalls so gut wie vollendet. Jetzt muss ich nur noch die Einzelheiten drumherum und die Bordüre beenden. Ich finde es heilsam, eine Mutter mit Kind zu malen, nicht irgendeine Mutter mit Kind, auch nicht Marie und unseren Sohn, sondern die Mutter der Welt mit unserem Erlöser. Es ist eine große Ehre für mich.
Er hatte sie also nicht vergessen. Aber schon wieder war er mit den Gedanken bei Marie gewesen.
26. KAPITEL
Im Himmel ist ein Engel nichts Besonderes.
George Bernard Shaw, Maxims for Revolutionists
»Das war Lisa. Ganz bestimmt! Sie will sich an mir rächen.«
Amber kam, als Ben gerade fort war. Entsetzt betrachtete sie das zersplitterte Schaufenster.
»Du kannst doch nicht einfach irgendwelche Leute verdächtigen«, antwortete ich müde, »es passiert doch alle naselang, dass Ladenfenster eingeworfen werden.«
»Ich weiß genau, dass sie es war«, beharrte Amber. »Sie hasst mich.«
»Aber wieso?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihr jedenfalls nichts getan. Es sieht so aus, als würde ich sie auf die Palme bringen, ohne dass ich auch nur den kleinen Finger rühre. Es ist völlig unfair.«
»So ist das Leben nun mal«, entfuhr es mir. Sicher hatte Amber das oft genug selbst erfahren. Dieser Job war vermutlich die einzige richtige Chance, die man ihr bisher gegeben hatte, und bislang nutzte sie sie sehr gut. Sie besaß künstlerisches Geschick und ein natürliches Talent für die Arbeit mit Glas. Es wäre wirklich eine Schande, wenn jemand versuchen würde, das zu zerstören.
»Amber, gibt es denn tatsächlich irgendeinen Hinweis darauf, dass Lisa letzte Nacht das Heim verlassen und einen Briefbeschwerer in unser Schaufenster geworfen hat? Wenn das so ist, würde ich natürlich die Polizei verständigen. Vielleicht haben sie ja Fingerabdrücke gefunden.« In Wahrheit bezweifelte ich jedoch, dass die Person, die das Verbrechen verübt hatte, so dumm gewesen war, an dem Wurfgeschoss irgendwelche Spuren zu hinterlassen. »Ansonsten … es würde dir das Leben noch viel schwerer machen, wenn du sie für etwas beschuldigst, was sie nicht getan hat.«
»Du hast wahrscheinlich recht.« Amber zuckte resigniert mit den Schultern. Sie war nicht nur geschockt über das, was passiert war, sie fühlte sich auch dafür verantwortlich, was natürlich unsinnig war.
»Versuch doch mal, dich unauffällig zu erkundigen, ob jemand weiß, wo sie gestern Abend war.«
»Ihre Freundinnen kann ich schlecht fragen. Sie würden sicher wissen wollen, wieso mich das interessiert.«
»Dann wende dich doch einfach an die Aufsicht, die gestern Dienst hatte. Blöd, dass Jo nicht da war. Sie wüsste sofort Bescheid.« Jo war gestern Abend bei der Chorprobe gewesen und anschließend sofort nach Hause gegangen.
»Effie und Ra hatten Dienst. Ich könnte Ra fragen. Er hat vorne am Empfang gesessen und gesehen, wer rein- und rausgegangen ist.«
»Aber denk dran, Amber.« Ich sah sie beschwörend an. »Du musst
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