Der Zauber des Engels
ihm auf und beruhigte ihn. Aber oft war ich auch diejenige, die getröstet werden musste, weil ich mir Sorgen um Dad machte.
Als ich später auf diese Zeit zurückblickte, fragte ich mich oft, was mich damals zum Bleiben bewogen hat. Es war zu einem großen Teil Leidenschaft, reine physische Leidenschaft. Ich war verrückt nach ihm, und die Tatsache, dass er mit meinen Gefühlen spielte, steigerte mein Begehren nur noch mehr. Aber ich glaube, es war auch ein Stück Verzweiflung. Ich stürzte mich in eine intensive Beziehung, um meine tiefe Traurigkeit und Einsamkeit zu vergessen.
Uns verband etwas, eine tiefe Verletzung, die in uns steckte, eine zerstörerische dunkle Macht. Er war ein dunkler Engel. Und wir verletzten uns gegenseitig.
Eines Nachmittags Anfang Oktober saß ich an Dads Bett und hielt seine Hand. Er schlief, seine Atemzüge waren tief und laut.
Ein Schatten fiel über das Bett, dann hörte ich ein diskretes Hüsteln, und als ich aufschaute, sah ich Dr. Bashir. Er stand am Fußende, las ein paar Akten durch und zeichnete sie kurz ab. »Kommen Sie bitte mit«, sagte er und schob mich in ein kleines Sprechzimmer am Ende der Station.
»Miss Morrison, wir haben bei Ihrem Vater heute Morgen wieder einige Untersuchungen vorgenommen, und die Ergebnisse sind leider nicht ermutigend.« Er sah mich ernst an. »Offenbar hat er einen weiteren kleineren Schlaganfall erlitten. Wir haben Anlass zu der Befürchtung, dass er ganz allmählich in einen Zustand der Bewusstlosigkeit hinübergleiten wird.«
Ich schluckte und sah ihn stumm an.
»Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass die Prognose sehr schlecht ist. Ich kann auch nicht sagen, wie lange es dauern wird, Tage oder Wochen oder Monate. Wir werden die aktuelle Medikation zunächst fortsetzen, aber ich fürchte, es wird das Unausweichliche nur hinauszögern. Ihr Vater wird immer weiter in die Bewusstlosigkeit sinken, und früher oder später wird es zu irreparablen Schädigungen kommen. Ich fürchte, er wird nicht wieder zu uns zurückkehren.«
Er reichte mir eine Box mit Papiertüchern, denn inzwischen konnte ich meine Tränen nicht länger zurückhalten. »Gibt es jemanden, den Sie anrufen möchten?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, niemanden«, antwortete ich automatisch, doch im selben Moment wurde mir klar, dass das nicht stimmte. Ich wusste sofort, wen ich jetzt brauchte. Weder Ben, der Dad nie kennengelernt hatte, noch Jo oder Jeremy, sondern Zac. Ich wollte Zac anrufen.
Dr. Bashir redete weiter. »Ich muss Sie um Ihre Zustimmung bitten, Miss Morrison, dass Ihr Vater aus unserem Haus entlassen wird.«
Er machte eine Pause. Panik überkam mich. Wie sollte ich mich in der Wohnung mit all den Treppen und dem alten Bad anständig um Dad kümmern? Das ging doch nicht. Aber Bashir redete weiter. »Er braucht nun die Pflege, wie sie nur ein Hospiz leisten kann. Wenn Sie möchten, können wir Ihnen einige Häuser empfehlen. Wissen Sie, die Betten hier … na ja, für eine Langzeitversorgung …«
»Ja.« Ich machte mir Vorwürfe, dass ich nur an mich gedacht hatte.
»Diese Einrichtungen sind ausgezeichnet«, fuhr der Arzt fort. »Ihr Vater wird dort sehr gut aufgehoben sein, Sie werden sehen.«
Wir sprachen noch kurz über Dads Patientenverfügung. Er hatte angegeben, dass er nicht weiterleben wollte, wenn sein Leben nur noch von Maschinen abhängig sein würde. Dann bat ich den Arzt, die nötigen Vorkehrungen für eine Verlegung in ein Hospiz zu treffen.
Im Foyer fand ich ein öffentliches Telefon. Ich wählte die Nummer des Ladens. Beim zweiten Klingeln antwortete Zac.
»Zac«, flüsterte ich. »Gott sei Dank! Ich bin im Krankenhaus. Ich muss dringend mit dir sprechen. Wegen Dad. Es ist schlimmer geworden.«
»Warte dort«, sagte er. »Ich komme sofort. Ich nehme ein Taxi.«
Ich wartete im Foyer und sah ungeduldig zu, wie ein Taxi nach dem anderen vorfuhr. Endlich stieg Zac aus, und ich war erstaunt über die große Erleichterung, die mich in dem Augenblick überkam. Er eilte auf mich zu, und wir fielen uns in die Arme. Jetzt fühlte ich mich nicht mehr allein. In den vier oder fünf kurzen Wochen, die ich zu Hause war, war Zac für mich fast ein Familienmitglied geworden. Dad und er waren sich auf die ihnen eigene, schüchterne Art nähergekommen, und Dad bedeutete ihm genauso viel wie mir. Vielleicht sogar noch mehr, dachte ich manchmal, weil er nicht so viele alte Lasten mit sich herumschleppte.
Das einzige Hospiz, das wir
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