Der Zauber des Engels
für Dad fanden und das ihn sofort aufnehmen konnte, befand sich in Dulwich. Das bedeutete zwar eine längere Zugfahrt, aber der grüne Vorort und das Gebäude – ein vornehmes edwardianisches Haus auf einem schönen Grundstück – gefielen mir gut. Durch die Fenster fiel Licht, das durch das Herbstlaub der Bäume gefiltert wurde. Dr. Bashir hatte recht. Hier war Dad gut aufgehoben. Die Schwestern, einige von ihnen waren Nonnen, verrichteten ihre Arbeit ruhig und umsichtig, sie schienen Dads Bedürfnisse und auch unsere genau zu kennen. Es war auch für Zac und mich ein angenehmer Ort, um an Dads Bett zu sitzen und zuzusehen, wie er friedlich schlief.
Die ersten beiden Oktoberwochen vergingen in einer Art Schwebezustand. Auf dem Platz begannen die Bäume ihr Laub zu verlieren. Es segelte herab und bedeckte den Boden beinahe wie ein sanftes Grabtuch, während ich miterlebte, wie mein Vater immer mehr ins Koma sank. Morgens, wenn ich die Zeitung holte oder Milch kaufte, lief ich durch die raschelnden Blätter; später dann hatten Regen und Wind und die Füße der Passanten ihre zarte Schönheit zerstampft, bis sie irgendwann von einer Kehrmaschine weggefegt wurden.
In den ersten Tagen nach seiner Ankunft im Hospiz regte Dad sich manchmal, um dann jedoch wieder in völliger Bewusstlosigkeit zu erstarren. Aber wenn ich ihm von all den kleinen Begebenheiten in meinem Leben erzählte – wie wir mit dem Engel vorankamen, dass Amber sich für das nächste Semester am College für einen Kurs eingeschrieben hatte, dass Anita von nebenan Großmutter geworden war –, hatte ich fast immer das Gefühl, dass er mir zuhörte. Dennoch schien er im Laufe der Wochen mehr und mehr im Dämmerzustand zu verleben, und tief im Herzen wusste ich, dass er nichts mehr hörte.
Zac war mein Freund und Kollege, mit ihm verbrachte ich die Tage. Aber meine Gedanken waren nur bei Ben. Falls Zac über unsere Beziehung Bescheid wusste, was er vermutlich tat, sagte er nichts dazu. Stattdessen vertiefte er sich ganz in die Arbeit an unserem Engel, und es gelang uns, Raphael Zentimeter für Zentimeter und Stück für Stück zu rekonstruieren.
Zac hatte Glück gehabt und doch noch das richtige Glas gefunden – dem Kollegen in Ungarn war es gelungen, das passende Material aufzutreiben –, und während die herrlichen Herbstfarben draußen allmählich verblassten, erwachte unsere Werkstatt zu neuem Leben.
»Es sieht aus, als sei Licht darin gefangen«, meinte Amber atemlos, als Zac die funkelnden Stücke hochhielt.
Ja, unsere Arbeit war wirklich faszinierend. Eigentlich setzten wir einen zerbrochenen Engel neu zusammen, aber was dabei herauskam, war mehr als ein schönes Stück aus Glas und Licht. Wie durch ein Wunder verwandelte es sich in etwas Zauberhaftes und Lebensbejahendes.
28. KAPITEL
Seltsam, was ein Mann alles tun kann, und eine Frau hält ihn immer noch für einen Engel.
William Thackeray, The History of Henry Esmond
Am zweiten Montag im Oktober kam Jo schon wieder nicht zur Chorprobe. Ich rief sie am nächsten Abend an, aber sie war nicht zu Hause. Ich hinterließ ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, doch sie rief nicht zurück. Irgendwie war ich anschließend mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt, um es noch einmal zu versuchen; außerdem hatte Dominic versprochen, sie mit Unterlagen von der Probe zu versorgen. Als daher am nächsten Sonntagmorgen das Telefon klingelte, ich abnahm und ein krächzendes »Fran?« hörte, hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen.
»Jo? Jo, bist du das? Ist alles okay?«
»Nein, Fran, ist es nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Was ist denn los?«, fragte ich sie. Aber anstatt mir eine Antwort zu geben, fing sie an zu weinen. »Ich komme sofort vorbei«, sagte ich schnell: »Bleib, wo du bist.«
Jo öffnete mir die Tür zu ihrem Apartmenthaus und wartete oben an der Treppe auf mich. Sie sah aus wie ein Häufchen Elend. Ob jemand gestorben ist?, überlegte ich. Ich glaubte ihr sofort, als sie mir sagte, sie habe die ganze Nacht geweint. Ihr Gesicht war völlig verquollen, sie trug keine Kontaktlinsen, und die Augen hinter den Brillengläsern waren rot und geschwollen.
»Du wirst mich für ganz schrecklich halten«, sagte sie und warf sich auf das Sofa im Wohnzimmer ihrer Eltern. »Du wirst mich hassen. Ich hasse mich ja selbst. Ich weiß auch nicht, wie ich da reingeraten bin. Ich hätte das nie von mir geglaubt.«
Ich setzte mich neben sie. »Was um alles in der Welt hast
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