Der Zauber des Engels
Verrat.
»Fran, es gibt etwas, worüber wir reden müssen. Hat dein Dad dir je eine Vollmacht ausgestellt? Es
… es gibt da ein paar unbezahlte Rechnungen. Und ich bin nicht zeichnungsberechtigt.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, Zac. Ich werde mich bei der Bank erkundigen. Und bei Dads Anwalt.«
Nachdem ich den Laden abgeschlossen hatte, fiel mir Jessicas Nachricht wieder ein. Sie war um diese Zeit meist noch in ihrem Büro; also machte ich mich auf die Suche nach meinem Adressbuch.
»Fran!«, rief sie, als sie meine Stimme hörte. »Ich glaube, ich habe alle Nummern probiert, die du mir je gegeben hast. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, du wärst vielleicht gekidnappt worden oder so. Wie geht’s dir?«
Ich entschuldigte mich, erzählte ihr von Dad und warum ich in London gebraucht wurde. Während ich redete, fiel mir auf, dass mein früheres Leben – mit Orchestern um die Welt zu touren und alle paar Tage in einem anderen Hotel zu wohnen – schon jetzt Lichtjahre entfernt zu sein schien. Meine ganze Energie, alles, was für mich wichtig war, konzentrierte sich hier.
»Ich fürchte also, dass ich eine Zeit lang nicht verfügbar sein werde. Außer vielleicht in London«, fügte ich bedrückt hinzu.
»Das ist schlecht. Ich hätte da nämlich was Interessantes in New York für dich gehabt. Die Halliwell gehen auf Tournee, und der Tuba-Spieler liegt mit einer Rippenfellentzündung flach. Aber ich verstehe dich natürlich. Wenn ich irgendwas in der Nähe reinkriege, sage ich dir Bescheid. Ansonsten warte ich, bis du dich wieder bei mir meldest.«
»Danke, Jess.«
»Aber warte nicht zu lange, ja?« Es klang locker, aber ich hörte deutlich die Warnung hinter ihren Worten.
»Nein, ganz bestimmt nicht«, versicherte ich. Schließlich wusste ich, wie leicht man in der Musikbranche in Vergessenheit geriet.
Mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung legte ich auf. Bedauern, weil ich immer noch zu jener Welt dort gehören wollte; Erleichterung, weil mir klar war, dass ich, zumindest im Augenblick, in diese Welt hier gehörte.
Ich toastete mir gerade ein Käsesandwich zum Abendessen, als Reverend Quentin anrief.
»Meine Frau Sarah hat in den letzten Tagen sämtliche Kisten und Schränke in der Sakristei und im Pfarrbüro durchsucht«, sagte er.
»Das ist sehr nett von ihr«, antwortete ich. »Hat sie Glück gehabt?«
»Sie hat eine Chronik der Kirche aus dem Jahr 1927 gefunden, aber darin werden die Fenster nur beschrieben. Leider gibt es keinerlei Abbildungen. Also habe ich einen Mitarbeiter des Diözesan-Archivs gebeten, nachzuschauen, ob er uns helfen kann, aber wie ich schon befürchtet hatte, meinte er, das würde eine Weile dauern.«
»Was steht denn in der Beschreibung?«, fragte ich.
»Moment mal bitte. So, da habe ich es. ›Die Marienkapelle. Ostfenster: Maria mit dem Kind , kostbares farbiges Glas aus dem späten 19. Jahrhundert von Minster Glass , Stifterin Mrs. Sarah Fotherington … Südfenster, Engel , ebenfalls von Minster Glass, Stifter Reverend James Brownlow , im Gedenken an seine Tochter Caroline‹. Das ist alles.«
»Okay.«
Ich musste geseufzt haben, denn er fügte hinzu: »Tut mir leid, das war nicht sehr hilfreich, oder?«
»Das macht nichts. Ich werde später noch mal in Dads Unterlagen suchen.«
Nach ungefähr einer Stunde hatte ich Glück. Ich fand etwas, das man im Fachjargon »Vidimus« nannte, wörtlich übersetzt: »Lass uns sehen«. Es handelte sich um eine kleine Farbskizze für das Fenster mit der Jungfrau und dem Kind. Vermutlich hatte der Künstler sie angefertigt, um seinem Auftraggeber schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Vorstellung zu verschaffen, wie er das Fenster gestalten wollte. Die Skizze war wunderschön ausgeführt, die Farben ungeheuer ausdrucksvoll.
Erstaunlicherweise hing eine Notiz daran, die mich zu einem großen Aktenschrank im hinteren Teil des Raums führte. Darin befanden sich, sorgfältig gefaltet und sortiert, Hunderte wesentlich größerer Zeichnungen. Ich stieß einen regelrechten Triumphschrei aus, als ich zwanzig Minuten später eine Zeichnung mit dem Titel » Jungfrau mit dem Kind im Glorienschein , St.-Martin’s-Kirche« herauszog. Aufgeregt faltete ich sie auseinander und breitete sie auf dem Fußboden aus. Es war eine viel größere Version der Vidimus-Skizze, die ich vorher gefunden hatte, in der tatsächlichen Größe des Fensters, aber nur in Umrissen gezeichnet, ohne Farbe. Vermutlich diente sie als
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