Der Zauber des Engels
wieder weg, aus Angst, er könne merken, dass sie ihn anstarrte.
»Ich habe für das Fenster ein Bild der Jungfrau mit dem Kind vor Augen«, sagte er schließlich. »Aber der Engel … ich nehme an, das Fenster ist zu Ehren Ihrer Schwester gedacht?«
»Caroline, ja.«
»Können Sie mir ein bisschen über sie erzählen? Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist.«
»Oh ja, ich rede gerne über sie. Dann habe ich immer das Gefühl, dass sie noch bei uns ist. Caroline war vier Jahre jünger als ich, fast siebzehn, als sie starb. Sie hatte etwas an sich, das sich schwer beschreiben lässt. Eine Sanftheit, eine Güte.«
Russell, der rasch etwas in die Ecke seines Blattes zeichnete, während er zuhörte, nickte ihr aufmunternd zu.
Sie fuhr fort: »Wir waren nie eifersüchtig auf sie, sondern haben sie immer geliebt. Das ist für Geschwister ganz schön erstaunlich, oder? Mit Harriet habe ich mich manchmal gestritten – sie ist die Schwester zwischen Caroline und mir. Und dann ist da noch Tom, der Älteste. Er studiert in Oxford und möchte einmal Pfarrer werden, so wie Papa. Wir hatten noch einen Bruder. Ned war der jüngste von uns, aber leider haben wir ihn auch verloren.«
Mr. Russells Gesichtsausdruck war voller Mitgefühl. Laura hielt den Atem an.
»Mama sagt, man würde es heute nicht mehr sehen, weil er so grau ist, aber Papa hätte früher auch so hellgoldene Haare gehabt. Das von Caroline war so ähnlich, bevor es anfing auszufallen. Sie war so dünn wegen ihrer Krankheit, dass ihre Haut ganz durchscheinend war. Man konnte das Blut in ihren Adern fließen sehen.«
»Gibt es vielleicht eine Fotografie oder ein Gemälde von ihr?«
»Es gab einige Fotografien, aber meine Mutter hat sie versteckt. Sie kann es nicht ertragen, sie anzusehen. Wenn Sie möchten, kann ich sie danach fragen.«
»Glauben Sie, eine Engelsdarstellung zum Gedenken an Ihre Schwester würde ihr gefallen?« Er wirkte auf einmal unsicher. »Oder … wäre das zu schmerzhaft?«
Laura wusste nicht, was ihrer Mutter gefallen würde. Wie stand es um sie selbst? Es würde merkwürdig sein, Carolines Gesicht im Fenster zu sehen. »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Am besten, Sie fragen sie selbst.«
»Ja, das werde ich tun«, antwortete er und klappte sein Skizzenbuch zu.
Laura stand auf und zog ihren Umhang fester. Er erhob sich ebenfalls, und als sie kurz zur Rückenlehne der Bank griff, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, hielt er sie am Arm fest. Einen Moment lang war er ihr so nah, dass ihr ganz schwindelig wurde.
»Kommen Sie schon bald?«, fragte sie ihn.
»Natürlich. Vielleicht Dienstagmorgen, wenn das angenehm ist.« Mit einer leichten Verbeugung trat er zurück, um sie vorbeizulassen.
»Oh, das Baby hat schon wieder Schluckauf. Sieh mal!«
Harriet lag ausgestreckt auf der Chaiselongue, auf die Miss Stephens, die Hebamme, sie mit Kissen unter Kopf und Füßen sorgfältig gebettet hatte. Fasziniert starrte Laura auf den riesigen Bauch ihrer Schwester, der sich unter den weiten Röcken deutlich abzeichnete. Im nächsten Augenblick zuckte der Bauch leicht, und beide lachten.
»Oh, Laura, es ist so langweilig, die ganze Zeit hier rumzuliegen. Ich sehe kaum noch jemanden. Und Georges Mutter schickt mir täglich irgendwelche guten Ratschläge. Wenn sie mir noch einmal schreibt, wie wunderbar George als Baby war, nur weil sie keine schwere Kost zu sich genommen hat und täglich mit ihm an der frischen Luft war … und, ich weiß auch nicht … ihn wahrscheinlich ausschließlich mit Quark gefüttert hat, dann bekomme ich einen Schreikrampf, das schwöre ich. Hilf mir mal bitte hoch, ja? Ich habe Schmerzen unten im Rücken, schon den ganzen Tag. Ah, das ist besser. Das Baby hat sich bewegt. Leg mal deine Hand hierhin, dann kannst du sein Füßchen spüren.«
Vorsichtig legte Laura ihre Finger auf Harriets Bauch. Wie hart er ist, dachte sie. »Oh!« Das Baby trat gegen ihre Hand. »Harriet!«
Aufgeregt drückten die Schwestern sich die Hände.
»Glaubst du, es wird sehr wehtun?« Laura sah ihre Schwester an. »Wenn das Baby kommt, meine ich?«
»Die Hebamme sagt Ja, aber es sei nun mal das Schicksal von uns Frauen, und ich müsse tapfer sein. Aber ich weiß nicht, ob ich tapfer sein kann, Laura.« Harriets sonst so makellose Haut, die in letzter Zeit sehr fleckig war, nahm auf einmal die Farbe von Weizen an.
»Ich könnte das nie«, flüsterte Laura, mehr zu sich selbst als zu ihrer Schwester. »Aber wenn Mama dabei ist,
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