Der Zauber des Engels
durcheinander. Ich trage die Schuld an Mr. Bonds Elend, obwohl ich gar nichts falsch gemacht habe. Ich habe nie um seine Aufmerksamkeit gebuhlt.
Montag, 16. Februar
Ich habe endlich mit meiner neuen Geschichte angefangen. Die junge Frau ist eine Waise und heiratet aus Liebe einen jungen Mann, der fälschlicherweise glaubt, sie sei sehr vermögend. Als er erfährt, dass ihre Liegenschaften unveräußerlich sind und dass er das Geld nicht anrühren darf, verlässt er sie, und sie verliert ihre gesellschaftliche Stellung. Ich muss noch überlegen, wie es weitergeht, aber ich stelle mir vor, dass sie ihr Leben trotz der öffentlichen Schmach selbst in die Hand nimmt.
Mittwoch, 18. Februar
Als wir gestern Abend vom Dinner bei George und Harriet zurückkamen, sahen wir eine grässliche Szene. Mrs. Jorkins hat sich mit einem betrunkenen Mann gestritten, der sich als der mysteriöse Mr. Cooper entpuppte. Erinnerst Du Dich, dass ich Dir von den Coopers erzählt habe? Es ist so traurig. Das Baby ist gestorben, und der Arzt hat Molly Cooper ins Krankenhaus eingewiesen.
Mr. Cooper hat geflucht und gebrüllt und wollte unbedingt Geld haben. Papa wollte ihm keins geben, weil er genau wusste, dass er es ohnehin nur für Schnaps ausgeben würde. Stattdessen hat er uns alle ins Haus geschoben und damit gedroht, den Constable zu holen. Zum Glück ist der Mann daraufhin gegangen, aber wir konnten ihn noch in weiter Ferne toben und fluchen hören. Mama war ziemlich mitgenommen, aber Du kannst Dir sicher denken, wie entschlossen sie reagiert hat. »Die Kinder sind ganz allein, James«, rief sie und wollte nicht ins Bett gehen, sondern sofort nach der verlassenen Familie sehen. Aber Papa untersagte es ihr. »Bis morgen wird ihnen schon nichts passieren«, meinte er. »Was willst du jetzt ausrichten? Du holst dir den Tod, wenn dieser Mann uns nicht vorher umbringt.«
Also sind wir am nächsten Morgen alle früh aufgestanden und haben die Familie Cooper besucht. Was für ein Elend! Keine Spur von dem verschwundenen Papa. Und obwohl Ida ihr Bestes getan hatte, hatten die Kleinen nichts mehr gegessen, seit der Arzt am Tag zuvor da gewesen war. Mama bat mich, bei ihnen zu bleiben, während sie mit Ida zum Krankenhaus ging. Doch heute Abend sind die Nachrichten nun richtig schlecht. Molly Cooper ist ihrem Fieber erlegen, und die Kinder sind nun praktisch Waisen. Die Behörden werden morgen über ihr weiteres Schicksal entscheiden.
Freitag, 20. Februar
Ein weiterer grässlicher Tag. Die fünf Cooper-Kinder sind ins Waisenhaus gebracht worden, und Ida soll vorläufig als Küchenmagd bei uns arbeiten. Sie sitzt nur da und weint, die Ärmste. Mrs. Jorkins ist so nett, sich ihrer anzunehmen.
Samstag, 21. Februar
Dieser Schurke Cooper ist wieder aufgetaucht und hat erneut gebrüllt und verlangt, seine Tochter zu sehen. Und dann hat er Mama und Papa verflucht, weil sie ihm seine Familie weggenommen haben. Er hat Mama sogar vorgeworfen, seine Frau umgebracht zu haben – der Mann ist ungeheuerlich. Irgendwann kamen zwei Wachtmeister, um ihn zu verhaften, wer weiß, was nun mit ihm geschieht. Ida hatte sich die ganze Zeit versteckt, so groß war ihre Angst. Sie hat Mama erzählt, dass er ihre Mutter immer geschlagen hat, wenn er zu viel Schnaps getrunken hatte. Mama verhält sich großartig, wie immer in so schwierigen Situationen. Aber sie hat dabei denselben Ausdruck aufopfernder Verzweiflung im Gesicht wie die Heilige Jungfrau auf dem Kreuzigungsfenster. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ihre Gesundheit leidet.
Danach folgte eine lange Tagebuch-Pause von einigen Monaten. Der nächste Eintrag war auf den 15. April 1880 datiert. Ich las weiter …
10. KAPITEL
Wir sollten zu den Engeln beten, denn sie sind uns zum Schutz gegeben.
Hl. Ambrosius, De Viduis
LAURAS GESCHICHTE
Der Türknauf drehte sich langsam, die Tür sprang quietschend auf, und Laura betrat die Kirche. Die Luft roch nach Lilien und Weihrauch und erschien einem besonders kühl, wenn man aus der warmen Frühlingssonne kam. Laura brauchte einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie stand da und lauschte in die erschreckende Stille. »Das ist die Gegenwart Gottes«, hatte ihre Mutter ihr einmal zugeflüstert. Die Geräusche, die von der Straße hereindrangen, wie der Besen, der rhythmisch über den Boden fegte, das eilige Hufgetrappel einer vorbeifahrenden Pferdekutsche, das Bellen eines aufgeregten Hunds – all das störte die Stille
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