Der Zauber eines fruehen Morgens
Mama sagte, dass nur Fabrikarbeiterinnen und Dirnen sich dort amüsieren.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Belle entrüstet. »Mein Mann war letztes Jahr mit mir dort, und wir haben viele Leute von Stand gesehen. Es ist ein harmloses Vergnügen für jedermann.«
»Mama ist sehr strikt in ihren Ansichten.« Miranda seufzte. »Um ehrlich zu sein, ich würde praktisch jeden heiraten, um von ihr wegzukommen.«
»Sie müssen doch nicht den Erstbesten heiraten, um von zu Hause wegzukommen!«, rief Belle entsetzt. »Sie könnten ohne Weiteres eine Anstellung in einem Büro bekommen und sich irgendwo ein Zimmer mieten. Ich kenne Mädchen mit Ihrem Hintergrund, die normalerweise nicht arbeiten würden, doch da wir jetzt im Krieg sind, gibt es viel mehr Möglichkeiten für Frauen. Und Sie können darauf wetten, dass Mädchen mit Bildung und guter Erziehung bessere Chancen haben!«
Miranda drückte ihren Arm. »Sie sind so inspirierend«, sagte sie. »Sowie ich das hier überstanden habe, sehe ich mich nach einer Stellung um. Mama kann mich schlimmstenfalls verstoßen, und so, wie mir im Moment zumute ist, wäre das geradezu himmlisch.«
Belle dachte bei sich, dass Miranda es nicht mehr so toll finden würde, wenn sie feststellte, wie lange die Arbeitszeiten und wie niedrig die Löhne für Frauen waren. Doch sie war froh, ihr Stoff zum Nachdenken gegeben zu haben.
»Bevor Sie sich von Ihrem Unabhängigkeitsstreben mitreißen lassen, überlegen Sie sich lieber eine Geschichte für Ihre Mutter«, erwiderte sie vergnügt. »Sie können die Schramme auf Ihrer Stirn als Ausrede benutzen, warum Sie ein bisschen wackelig auf den Beinen sind, und behaupten, dass Sie heute Morgen in Belgravia hingefallen sind und außerdem sehr starke Blutungen haben. Und für den Fall, dass uns jemand zusammen sieht, könnten Sie vielleicht erzählen, wir wären uns im Zug begegnet und ich hätte Sie nach Hause begleitet, weil Ihnen schwindlig war.«
Miranda nickte zustimmend. »Sie denken wirklich an alles. Aber was ist, wenn irgendjemand gestern den Unfall gesehen hat?«
Auch daran hatte Belle gedacht. »Also, mir war keiner von den Leuten, die in der Nähe waren, bekannt, und wenn jemand Sie gekannt hätte, wäre er oder sie Ihnen bestimmt zu Hilfe geeilt. Sollte Ihrer Mutter trotzdem etwas davon zu Ohren kommen, leugnen Sie einfach. Falls sie zu mir kommt, werde ich Ihre Geschichte bestätigen und sagen, dass die Person, die den Unfall hatte, eine Fremde war.«
»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken«, bemerkte Miranda leise. Als sie an diesem Morgen aufgewacht war, war sie sehr verlegen gewesen. Noch nie war jemand so nett zu ihr gewesen wie Belle. »Darf ich mit Ihnen in Verbindung bleiben?«
»Ich wäre traurig, wenn Sie es nicht täten«, erwiderte Belle. »Ich hoffe, wir werden gute Freundinnen.«
Auf einmal fiel ihr ein, dass Mrs. Forbes-Alton die Freundschaft ihrer Tochter mit einer Ladenbesitzerin kaum dulden würde, zumal Belles Ehemann Schankwirt war. Und in ein paar Tagen würde Miranda vielleicht befürchten, dass Belle über die Angelegenheit redete.
»Natürlich entstamme ich nicht Ihren Kreisen«, fügte Belle betont beiläufig hinzu. »Doch Sie können jederzeit auf einen Schwatz zu mir ins Geschäft kommen. Und denken Sie bitte keine Sekunde, ich könnte Ihr Geheimnis verraten. Ich verspreche Ihnen, es anderen gegenüber nie mit einem Wort zu erwähnen. Meine Tante Mog weiß Bescheid, aber sie ist genau wie ich verschwiegen und loyal.«
»Ich weiß«, sagte Miranda. »Ich habe es gleich gespürt, als Sie mir Ihre Hilfe anboten. Jetzt verstehe ich, warum die Freundinnen meiner Mutter über Sie reden. Obwohl Sie so jung sind, sind Sie eine starke und faszinierende Frau.«
Belle lachte. »Was reden sie denn über mich?«
»Nun ja, Ihre Schönheit kommt häufig zur Sprache und natürlich auch Ihre wundervollen, eleganten Hüte. Wie ich gesternschon sagte, heißt es, dass Sie Französin sind, und das bedeutet für die meisten, dass Sie ein bisschen gewagt sind.«
Belle amüsierte sich. »Finden Sie das auch?«
Miranda warf Belle einen Seitenblick zu und errötete. »Na ja, etwas an Ihnen … Sie sind sehr selbstbewusst und gewandt und verstehen viel von Menschen. Ich hoffe, Sie erzählen mir eines Tages alles über sich. Wie Sie nach Paris gekommen sind, wo Sie Ihren Mann kennengelernt haben und ob Sie vor ihm schon einen anderen geliebt haben.«
»Das mache ich bestimmt«, antwortete Belle, obwohl sie den Verdacht
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