Der Zauber eines fruehen Morgens
gemacht!«, brüllte Miranda, die weit, weit hinter ihr zurückgeblieben war. »Fahr weiter, bis du an eine Stelle kommst, wo du drehen kannst, ohne abzusteigen, und komm zu mir zurück!«
Belle tat wie geheißen. Sie blieb nicht nur im Sattel, sie wendete problemlos und radelte mit wachsendem Selbstvertrauen zurück. Miranda klatschte begeistert in die Hände.
»Du hast es viel schneller gelernt als ich«, sagte sie. »Komm, gehen wir eine Tasse Tee trinken, dann kannst du nachher den ganzen Weg heimfahren!«
Nachdem sich Belles Begeisterung über ihre neuen Kenntnisse erst einmal gelegt hatte, unterhielten sich die beiden jungen Frauen bei Tee und einem Stück Kuchen über ihre erste Woche im Krankenhaus.
»Ich bin nicht wirklich für diese Arbeit geschaffen«, gab Miranda zu. »Beim Ausleeren von Bettpfannen wird mir schlecht, und ich glaube nicht, dass ich je einen Verband anlegen könnte, doch zum Glück erledigen das die ausgebildeten Schwestern. Schwester MacDonald meckert ständig an mir herum. Sie mag mich kein bisschen. Aber ich denke einfach daran, dass ich Rettungswagen fahren will und nur Grundkenntnisse in Erster Hilfe brauche, und das hilft.«
Nach allem, was Miranda erzählte, ließ man sie auf ihrer Station tatsächlich vor allem Reinigungsarbeiten verrichten. Belle musste auch den Boden kehren, Bettpfannen austeilen und einsammeln, Patienten füttern, die nicht eigenhändig essen konnten, und Betten machen. Aber man traute ihr auch zu, Patienten zu waschen und zu rasieren, und sie hatte bereits kleinere Wunden verbunden.
Doch keine von ihnen hatte Lust, länger bei den Strapazen ihrer Tätigkeit zu verweilen. Es gab auch lustige Geschichten, über die man lachen konnte.
»Am Freitag hat eine neue Freiwillige angefangen«, erzählte Miranda. »Die Schwester hat sie aufgefordert, eine Bettpfanne zu einem Patienten zu bringen, dessen Bettvorhänge zugezogen waren. Er wurde gerade von Kopf bis Fuß gewaschen und war bis auf seine Verbände splitternackt. Du hättest sie sehen sollen, als sie wieder rauskam: das Gesicht puterrot und zitternd wie ein Wackelpudding. Später hat sie mir erzählt, dass sie vorher noch nie einen nackten Mann gesehen hatte. Sie hat nicht mal Brüder.«
Belle lachte. Die Schwestern auf ihrer Station hatten ähnliche Geschichten erzählt; tatsächlich hatten sie gesagt, dass Belle die erste Freiwillige sei, die nicht verlegen wirkte. Zum Glück wussten sie, dass Belle verheiratet war, sonst hätten sie sich bestimmt gewundert. »Für die Männer ist es genauso unangenehm«, sagte sie. »Wir bekamen gestern einen ganz jungen Burschen herein, und ich musste ihn waschen. Er kniff die ganze Zeit die Augen zu. Er dachte wohl, wenn er mich nicht sieht, kann ich ihn auch nicht sehen. Wahrscheinlich hat ihn außer seiner Mutter noch nie jemand nackt gesehen. Als ich ihn später füttern kam, wurde er gleich wieder rot und wich ständig meinem Blick aus.«
»Wie war es für dich, als du … äh, du weißt schon, was ich meine … in New Orleans.«
»Nach dem ersten halben Dutzend Männer bist du nicht mehr verlegen.« Belle seufzte. »Ich habe viel zu viel über Männer gelernt. Als ich von Paris wieder herkam, habe ich versucht, das alles aus meinem Gedächtnis zu streichen, doch es ist mir nicht gelungen.«
»Ich frage mich oft, wie es für mich sein wird, wenn und falls ich wieder einen Mann kennenlerne, den ich wirklich mag«, sagte Miranda. »Ich ermahne mich ständig, so etwas nie wieder zu machen, bis ich verheiratet bin, aber ich weiß nicht, ob ich stark genug bin.«
Belle sah ihre Freundin forschend an. Miranda wollte damit vermutlich andeuten, dass sie häufig daran dachte, mit einem Mann zu schlafen, und dass sie es vermisste. Alle anderen Frauen in ihrem Alter und mit ähnlichem Hintergrund, die Belle kannte, waren keusch und züchtig, doch in Miranda schien eine angeborene Sinnlichkeit zu schlummern. Je länger Belle sie kannte, desto weniger wahrscheinlich schien ihr, dass Miranda sich je den strengen Regeln unterwerfen würde, die die Gesellschaft für junge Frauen aufgestellt hatte. Vielleicht lag es an dieser Wesensgleichheit, dass sie so gute Freundinnen geworden waren.
»Dann pass auf, dass du dich in einen Mann verliebst, der es wert ist!«, warnte Belle sie. »Du willst all diesen Kummer und Schmerz bestimmt nicht noch einmal erleiden. Durch den Krieg genießen die Frauen vielleicht ein bisschen mehr Freiheiten und haben mehr Möglichkeiten, aber
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