Der Zauber eines fruehen Morgens
vor.
»Ich nenne sie Ma«, sagte er.
»›Liebe Ma, ich bin zurzeit im Royal Herbert Military Hospital in Woolwich‹«, begann sie. »In Ordnung?«
»Ja, sagen Sie ihr, dass ich schlecht beisammen bin, aber in guten Händen. Und dass ich nicht schlapp gemacht habe, als es hieß ›Raus aus dem Schützengraben!‹. Und schreiben Sie ihr, wie leid es mir tut, dass ich ihr so viel Kummer mache!« Er brach ab, und sein schweres Atmen verriet, wie sehr ihn das Reden anstrengte.
Den Ausdruck ›schlapp machen‹ hatte Belle an diesem Tag schon mehrmals gehört. Er bedeutete, Angst zu haben. Sie war überzeugt, dass alle Männer Angst gehabt hatten, doch ebenso wenig wie sie über ihre Verletzungen klagten, erwähnten sie ihre Furcht. Sie fragte sich, wie irgendjemand den Mut aufbringen konnte, aus dem Schützengraben zu springen, obwohl auf ihn geschossen wurde.
»Haben Sie Geschwister, die ich erwähnen sollte?«, erkundigte sie sich.
»Ich bin ihr Einziger. Pa ist vor ein paar Jahren gestorben«, keuchte er. »Sagen Sie ihr, dass sie Whisky von mir streicheln soll; das ist mein Hund! Sonst fällt mir nichts ein.«
»Sie könnten ihr schreiben, dass Sie sie lieb haben«, schlug Belle vor.
»So ’n sentimentaler Kram, das ist nichts für uns«, brachte er heraus.
Belle drückte sanft seine Hand, froh, dass er die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte. »Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um ein bisschen sentimental zu sein. Ich weiß, dass ich so etwas gern von meinem tapferen Sohn hören würde.«
»Na gut. Und sagen Sie ihr, dass sie auf sich aufpassen und nicht so viel arbeiten soll!«
Schwester May hatte Belle empfohlen, sich Notizen anzufertigen und den Brief später ordentlich zu schreiben. »Und ich unterschreibe mit ›Dein dich liebender Sohn Albert‹«, schlug Belle vor.
»Geben Sie ihn für mich auf?«, fragte er.
»Ja, natürlich, Albert. Und jetzt schlafen Sie ein bisschen, bis der Arzt zu Ihnen kommt.«
»Sind Sie jung? Sie klingen jung, und Ihre Hände sind schön weich und glatt.«
»Ja, ich bin jung«, antwortete sie und bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich helfe hier noch nicht lang genug aus, um raue Hände zu haben. Doch das kommt sicher bald.«
»Ich hab noch nicht mal ein Mädchen geküsst«, brachte er mühsam heraus. »Ein paar von den anderen haben mir alle möglichen Sachen erzählt, die sie mit Mädchen angestellt haben. Die haben wohl dick aufgetragen, um sich wichtigzumachen, was?«
»Ganz bestimmt«, sagte sie und wünschte, sie könnte ihm versichern, dass er das eines Tages alles selbst erleben würde. Aber das konnte sie nicht; er wusste bereits, dass er es nicht schaffen würde. »Ich muss jetzt gehen, doch ich sehe später noch mal nach Ihnen.«
Albert starb eine Stunde später. Schwester May war bei ihm und hielt seine Hand. Belle konnte nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten, und die Schwester legte tröstend eine Hand auf ihren Arm.
»Es war am besten so, Reilly«, sagte sie sanft. »Jetzt hat er keine Schmerzen mehr, und was für ein Leben hätte er als Blinder mit entstelltem Gesicht führen können? Es ist auch besser, dass seine Mutter ihn nicht so gesehen hat. Sie kann stolz auf seinen Mut sein und ihren Jungen so in Erinnerung behalten, wie er war.«
»Wird es jedes Mal so sein?«, fragte Belle. Sie wusste nicht, ob sie immer die Fassung behalten würde, wenn derartige Szenen an der Tagesordnung waren.
»Wir müssen Trost aus den Patienten beziehen, die wieder genesen«, erklärte die Schwester. »Nicht an die denken, die es nicht geschafft haben. Wir geben für sie alle unser Bestes, und auch wenn Sie für Albert nicht mehr tun konnten, als an seine Mutter zu schreiben, hat ihm das mehr geholfen als das Morphium.«
Als Belle allmählich die Augen zufielen, fragte sie sich, wie es Miranda heute wohl ergangen war. Sie waren morgens gemeinsam zum Royal Herbert Military Hospital gegangen, doch Miranda war auf eine andere Station geschickt worden, und Belle hatte sie nicht mehr gesehen, nicht einmal, als der Konvoi mit Verwundeten eingetroffen war.
Drei Tage vergingen, ehe Belle ihre Freundin wiedersah. An ihrem zweiten Tag hatte Belle um sechs Uhr morgens ihren Dienst angetreten und ihn um sechs Uhr abends beendet. Hatte Miranda vielleicht andere Arbeitszeiten?
Doch als sie am vierten Tag Shooters Hill hinaufging, bimmelte hinter ihr eine Fahrradglocke, und sie drehte sich um. Miranda radelte eifrig den Hügel
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