Der Zauber Von Avalon 02 - Im Schatten der Lichtertore
Derkleine Kerl kreischte zornig und stürzte auf ihn los. Henni machte plötzlich ein besorgtes Gesicht, bevor er am Hang verschwand.
Im nächsten Augenblick kam ein sehr lauter (und für Tamwyn sehr befriedigender) Schmerzensschrei von den Felsen über dem Vorsprung. Der junge Mann grinste bewundernd. Was Flederwisch an Größe fehlte, ersetzte er durch Eifer, jedenfalls wenn er wütend war.
Langsam stand Tamwyn wieder auf, rückte Bündel, Stab und Dolch zurecht und fing erneut an, zum Vorsprung hinaufzuklettern. Der Weg schien länger als zuvor und die Klippe steiler, aber schließlich kam er wieder an die kritische Stelle. Diesmal versuchte er jedoch, sich seitlich zum Vorsprung hochzuarbeiten, und klemmte die Füße in senkrechte Felskerben. Nach und nach stieg er höher und schleppte sich die glatte Wand hinauf.
Endlich zog er sich mit letzter Anstrengung auf den Vorsprung. Eine Kante schürfte ihm die Wange auf, dass sie blutete, aber er kümmerte sich nicht darum. Er hatte es geschafft! Er nahm das Bündel ab und ließ sich schwer atmend gegen einen glatten, grauen Felsblock fallen.
Von Henni sah er nirgendwo eine Spur. Das verbesserte seine Laune noch. Zudem hatte er jetzt ein flacheres Gebiet erreicht, wo der Stamm sich nach außen zu wölben schien. Könnte die schwierige Kletterei bald zu Ende sein?
Er drehte den Kopf und betrachtete, was über ihm lag – und seine kurze Freude verging. Die Klippen streckten sich wieder höher hinauf, sie ragten endlos empor, bis sie schließlich vom Nebel verschluckt wurden. Vor ihm lagnichts als Fels, Fels und noch mehr Fels. Keine Spur vom Meer oder von der Pforte.
Dann öffnete sich im Westen ein Nebelschwaden. Und Tamwyn sah es – kaum mehr als ein Aufleuchten von Blau, tiefer als die Farbe des Himmels, gegen einen Rand aus braunem Ufer. Aber das war alles, was er brauchte.
Er blinzelte, um sicher zu sein. Der Anblick blieb der gleiche! Also war das schäumende Meer doch nicht außer Reichweite. Er musste nur noch ein bisschen höher klettern, bis er ihm nahe kam. Dann würde er, wenn die Barden Recht hatten, irgendwo dort oben die Pforte finden, die ihn zur großen Halle brachten.
Aber wo genau? Alle Balladen, die er gehört hatte, waren unbestimmt, sie erzählten nur von
der Pforte beim schäumenden Meer
oder
der Pforte auf den Klippen
. Selbst jetzt, wo er in der Gegend war, konnte es noch Stunden dauern – oder Tage –, bis er sie fand. Oder war die Hoffnung zu vermessen, dass er zur Abwechslung mal Glück haben sollte?
Er sank an den Felsblock zurück und rieb sich die müden Schultern an der glatten Oberfläche. Einen Augenblick faszinierte ihn das Seltsame daran. Warum sollte ein solcher Block, der so anders war als die ansteigenden Kämme ringsum, hier oben liegen? Er schaute wieder die Klippen hinauf und sah noch einige solcher Blöcke über sich, glatt, rund und schmutzig grau. Seltsam, dass er weiter unten nichts Ähnliches gesehen hatte.
Nun ja. Noch eine dieser unbeantworteten Fragen.
Er runzelte die Stirn.
In diesen Tagen sind mir viele begegnet. Und die meisten haben mit mir zu tun.
Er schaute hinunter auf sein Bündel mit dem Holz, aus dem eine magische Harfe entstehen könnte.
Oder mit ihr.
Er schaute zu dem hellen blauen Fleck im Westen. Der Anhang, dessen breite Schale das schäumende Meer umfasste, war eine weitere unbeantwortete Frage. War er Avalons höchste Wurzel, ein achtes Reich, wie manche annahmen? Wer dort gewesen war, darunter viele Vertreter von Avalons verschiedenen Völkern, die den Friedensvertrag zur Beendigung des Kriegs der Stürme unterschrieben hatten, beschrieb ein Gebiet, das Wasserwurzel ähnlich war, allerdings kleiner.
Oder war der Anhang eher Avalons niedrigster Ast? Das glaubten viele in dem Institut, das Tamwyns Vater gegründet hatte, die Eopia Hochschule für Kartenzeichner. Aber wer konnte das wirklich behaupten, wenn keiner – außer vielleicht Krystallus oder einer der Forscher, die mit ihm auf diese letzte, unselige Expedition gegangen waren – je wirklich einen Ast des großen Baums gesehen hatte?
Tamwyn hörte auf zu spekulieren, er war benommen von seinen Strapazen. Eines Tages, wenn er diese Suche überstand – und wenn Avalon Rhita Gawr überlebte –, würde er das schäumende Meer selbst erkunden müssen. Er lehnte den Kopf an den Felsblock und schloss die Augen. Eigentlich hatte er kein Schläfchen geplant. Er wollte sich nur ein wenig ausruhen, seine Kräfte sammeln, bevor er
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