Der Zauberberg
aber nur einen Augenblick. Denn so gestaltete es sich, daß ihre Pribislav-Augen an seiner mit übergeschlagenem Beine sitzenden Figur rasch hinunterglitten und mit einem Ausdruck von so geflissentlicher Gleichgültigkeit, daß er wie Verachtung aussah, genau wie Verachtung, eine Weile auf seinem gelben Stiefel haften blieben, – worauf sie sich phlegmatisch und vielleicht mit einem Lächeln in ihrer Tiefe wieder zurückzogen.
Ein schwerer, schwerer Unglücksfall! Hans Castorp redete noch eine Weile fieberhaft weiter; dann, als er dieses Blickes auf seinen Stiefel innerlich recht ansichtig geworden, verstummte {355} er beinahe mitten im Wort und sank in Gram. Die Kleefeld, gelangweilt und beleidigt, ging ihrer Wege. Nicht ohne Gereiztheit in der Stimme meinte Joachim, nun könnten sie ja wohl Liegekur machen. Und ein Gebrochener antwortete ihm bleichen Mundes, das könnten sie.
Hans Castorp litt grausam unter diesem Vorfall zwei Tage lang; denn nichts geschah unterdessen, was Balsam für seine brennende Wunde gewesen wäre. Warum dieser Blick? Warum ihm ihre Verachtung in des dreifaltigen Gottes Namen? Sah sie ihn an wie einen gesunden Gimpel von unten, dessen Aufnahmelustigkeit nur zum Harmlosen neigte? Wie eine Unschuld aus dem Flachlande, sozusagen, einen gewöhnlichen Kerl, der herumging und lachte und sich den Bauch vollschlug und Geld verdiente, – einen Musterschüler des Lebens, der sich auf nichts als auf die langweiligen Vorteile der Ehre verstand? War er ein windiger Hospitant auf drei Wochen, unteilhaft ihrer Sphäre, oder hatte er nicht Profeß getan auf Grund einer feuchten Stelle, – war er nicht eingereiht und zugehörig, einer von Uns hier oben, mit guten zwei Monaten auf dem Buckel, und war nicht Merkurius noch gestern abend wieder auf 37,8 gestiegen? … Aber das eben war es, das machte sein Leiden vollständig! Merkurius stieg nicht mehr! Die furchtbare Niedergeschlagenheit dieser Tage bewirkte eine Erkältung, Ernüchterung und Abspannung von Hans Castorps Natur, die sich zu seiner bitteren Beschämung in sehr niedrigen, kaum übernormalen Meßergebnissen äußerte, und grausam war es für ihn, zu gewahren, wie sein Kummer und Gram nichts weiter vermochte, als ihn von Clawdias Sein und Wesen immer nur weiter noch zu entfernen.
Der dritte Tag brachte die zarte Erlösung, brachte sie gleich in der Frühe. Es war ein herrlicher Herbstmorgen, sonnig und frisch, mit grausilbrig übersponnenen Wiesen. Sonne und abnehmender Mond standen gleichzeitig ziemlich gleich hoch {356} am reinen Himmel. Die Vettern waren früher als gewöhnlich aufgestanden, um dem schönen Tag zu Ehren ihren Morgenspaziergang ein wenig über die Vorschrift auszudehnen, auf dem Waldwege, an dem die Bank neben der Wasserrinne stand, etwas weiter vorzudringen. Joachim, dessen Kurve gerade ebenfalls einen erfreulichen Abstieg aufwies, hatte die erfrischende Unregelmäßigkeit befürwortet und Hans Castorp nicht nein gesagt. »Wir sind ja genesene Leute,« hatte er gesagt, »abgefiebert und entgiftet, so gut wie reif für das Flachland. Warum sollten wir nicht ausschlagen wie die Füllen.« So wanderten sie barhaupt – denn seit er Profeß getan, hatte Hans Castorp sich in Gottes Namen der herrschenden Sitte anbequemt, ohne Hut zu gehen, so sicher er sich anfangs, diesem Brauch gegenüber, seiner Lebensform und Gesittung gefühlt hatte – und setzten ihre Stöcke. Sie hatten aber den ansteigenden Teil des rötlichen Weges noch nicht zurückgelegt, waren erst ungefähr bis zu dem Punkte gelangt, wo damals der pneumatische Trupp dem Neuling begegnet war, als sie vor sich in einiger Entfernung, langsam steigend, Frau Chauchat gewahrten, Frau Chauchat in Weiß, in weißem Sweater, weißem Flanellrock, und sogar in weißen Schuhen, das rötliche Haar von der Morgensonne erleuchtet. Genauer gesagt: Hans Castorp hatte sie erkannt; Joachim fand sich erst durch ein unangenehmes Gefühl des Ziehens und Zerrens an seiner Seite auf die Umstände hingewiesen, – ein Gefühl, hervorgebracht durch die antreibend beschwingtere Gangart, die sein Begleiter plötzlich angeschlagen, nachdem er zuvor seine Schritte jäh gehemmt hatte und beinahe stehengeblieben war. Solches Gehetztwerden empfand Joachim als äußerst unzuträglich und ärgerlich; sein Atem verkürzte sich rasch, und er hüstelte. Aber den zielbewußten Hans Castorp, dessen Organe prachtvoll zu arbeiten schienen, kümmerte das wenig; und da sein Vetter der Sachlage
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