Der Zauberberg
davon berührt wurde, wollen wir dahingestellt sein lassen), so doch für Hans Castorps Phantasie und Gefühl. Nach dem Mittagessen pflegte in diesen schönen Tagen ein größerer Teil der Kurgesellschaft sich auf die dem Speisesaal vorgelagerte Veranda hinaus zu begeben, um eine Viertelstunde gruppenweise in der Sonne zu verweilen. Es ging da zu, und ein Bild entwikkelte sich, ähnlich wie bei der vierzehntägigen Sonntagsblechmusik. Die jungen Leute, absolut müßig, übermäßig gesättigt mit Fleischspeisen und Süßigkeiten, und alle leicht fiebernd, plauderten, schäkerten, äugten. Frau Salomon aus Amsterdam mochte wohl an der Balustrade sitzen, – hart mit den Knien bedrängt von dem wulstlippigen Gänser auf der einen und dem schwedischen Recken auf der anderen Seite, der, obgleich völlig genesen, seinen Aufenthalt zu einer kleinen Nachkur noch etwas verlängerte. Frau Iltis schien Witwe zu sein, denn sie erfreute sich seit kurzem der Gesellschaft eines »Bräutigams«, von übrigens zugleich melancholischer und untergeordneter Erscheinung, dessen Vorhandensein sie denn auch nicht hinderte, gleichzeitig die Huldigungen des Hauptmanns Miklo {353} sich, eines Mannes mit Hakennase, gewichstem Schnurrbart, erhabener Brust und drohenden Augen, entgegenzunehmen. Es waren da Liegehallendamen verschiedener Nationalität, neue Figuren darunter, erst seit dem 1. Oktober sichtbar geworden, die Hans Castorp kaum schon bei Namen zu nennen gewußt hätte, untermischt mit Kavalieren vom Schlage des Herrn Albin; monokeltragenden Siebzehnjährigen; einem bebrillten jungen Holländer mit rosigem Gesicht und monomanischer Leidenschaft für den Briefmarkentausch; verschiedenen Griechen, pomadisiert und mandeläugig, bei Tische zu Übergriffen geneigt; zwei eng zusammengehörigen Stutzerchen, die »Max und Moritz« genannt wurden und für große Ausbrecher galten … Der bucklige Mexikaner, dem Nichtkenntnis der hier vertretenen Sprachen den Gesichtsausdruck eines Tauben verlieh, nahm unaufhörlich photographische Aufnahmen vor, indem er sein Stativ mit schnurriger Behendigkeit von einem Punkt der Terrasse zum andern schleppte. Auch der Hofrat mochte sich wohl einfinden, um das Kunststück mit den Stiefelbändern aufzuführen. Irgendwo aber drückte sich einsam der mannheimische Religiöse in die Menge, und seine bis in den Grund hinein traurigen Augen gingen zu Hans Castorps Ekel heimlich gewisse Wege.
Um denn mit einem oder dem anderen Beispiel auf jene »Spannungen und Lösungen« zurückzukommen, so mochte bei einer solchen Gelegenheit Hans Castorp auf einem lackierten Gartenstuhl und in gesprächiger Unterhaltung mit Joachim, den er trotz seines Widerstrebens gezwungen hatte, mit herauszukommen, an der Hauswand sitzen, während vor ihm Frau Chauchat mit ihren Tischgenossen eine Zigarette rauchend an der Brüstung stand. Er sprach für sie, damit sie ihn höre. Sie wandte ihm den Rücken zu … Man sieht, wir haben jetzt einen bestimmten Fall im Auge. Des Vetters Gespräch hatte ihm nicht genügt für seine affektierte Redseligkeit, er {354} hatte absichtlich eine Bekanntschaft gemacht, – welche? Die Bekanntschaft Hermine Kleefelds – hatte wie von ungefähr das Wort an die junge Dame gerichtet, sich selbst und Joachim ihr namentlich vorgestellt und auch ihr einen lackierten Stuhl herangezogen, um sich zu dritt besser aufspielen zu können. Ob sie noch wisse, fragte er, wie teufelsmäßig sie ihn damals erschreckt habe, bei ihrer ersten Begegnung seinerzeit auf der Morgenpromenade. Ja, das sei
er
gewesen, den sie damals so herzerfrischend zum Willkomm angepfiffen! Und ihren Zweck habe sie erreicht, das wolle er freiwillig gestehen, er sei wie mit einer Keule vor den Kopf geschlagen gewesen, sie solle nur seinen Vetter fragen. Ha, ha, mit dem Pneumothorax zu pfeifen und harmlose Wanderer damit zu erschrecken! Ein frevles Spiel nenne er das, als sündhaften Mißbrauch bezeichne er es freierdings und in gerechtem Zorne … Und während Joachim im Bewußtsein seiner werkzeughaften Rolle mit niedergeschlagenen Augen saß und auch die Kleefeld aus Hans Castorps blinden und abschweifenden Blicken allmählich für ihre Person das kränkende Gefühl gewann, nur als Mittel zum Zwecke zu dienen, schmollte Hans Castorp und zierte sich und drechselte Redensarten und gab sich eine wohllautende Stimme, bis er es wirklich erreichte, daß Frau Chauchat sich nach dem auffällig Redenden umwandte und ihm ins Gesicht blickte, –
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