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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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fünfundzwanzig Prozent, und davon sind zwanzig Prozent gewöhnliches Hühnereiweiß, Proteinstoffe, wenn Sie es ein bißchen nobler ausdrücken wollen, denen eigentlich nur noch ein bißchen Fett und Salz zugesetzt ist, das ist so gut wie alles.«
    »Aber das Hühnereiweiß. Was ist das?«
    »Allerlei Elementares. Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Schwefel. Manchmal auch Phosphor. Sie entwickeln ja eine ausschweifende Wißbegier. Manche Eiweiße sind auch mit Kohlehydraten verbunden, das heißt mit Traubenzucker und Stärke. Im Alter wird das Fleisch zäh, das kommt, weil das Kollagen im Bindegewebe zunimmt, der Leim, wissen Sie, wichtigster Bestandteil der Knochen und Knorpel. Was soll ich Ihnen denn noch erzählen? Da haben wir im Muskelplasma ein Eiweiß, das Myosinogen, das im Tode zu Muskelfibrin gerinnt und die Totenstarre erzeugt.«
    »Ja so, die Totenstarre«, sagte Hans Castorp munter. »Sehr gut, sehr gut. Und dann kommt die Generalanalyse, die Anatomie des Grabes.«
    »Na, selbstredend. Das haben Sie übrigens schön gesagt. Dann wird die Sache weitläufig. Man fließt auseinander, sozusagen. Bedenken Sie all das Wasser! Und die anderen Ingredienzien sind ohne Leben ja wenig haltbar, sie werden durch die Fäulnis in simplere Verbindungen zerlegt, in anorganische.«
    {404} »Fäulnis, Verwesung,« sagte Hans Castorp, »das ist doch Verbrennung, Verbindung mit Sauerstoff, soviel ich weiß.«
    »Auffallend richtig. Oxydation.«
    »Und Leben?«
    »Auch. Auch, Jüngling. Auch Oxydation. Leben ist hauptsächlich auch bloß Sauerstoffbrand des Zelleneiweiß, da kommt die schöne tierische Wärme her, von der man manchmal zu viel hat. Tja, Leben ist Sterben, da gibt es nicht viel zu beschönigen, – une destruction organique, wie irgendein Franzos es in seiner angeborenen Leichtfertigkeit mal genannt hat. Es riecht auch danach, das Leben. Wenn es uns anders vorkommt, so ist unser Urteil bestochen.«
    »Und wenn man sich für das Leben interessiert,« sagte Hans Castorp, »so interessiert man sich namentlich für den Tod. Tut man das nicht?«
    »Na, so eine Art von Unterschied bleibt da ja immerhin. Leben ist, daß im Wechsel der Materie die Form erhalten bleibt.«
    »Wozu die Form erhalten«, sagte Hans Castorp.
    »Wozu? Hören Sie mal, das ist aber kein bißchen humanistisch, was Sie da sagen.«
    »Form ist ete-pe-tete.«
    »Sie haben entschieden was Unternehmendes heute. Förmlich was Durchgängerisches. Aber ich falle nun ab«, sagte der Hofrat. »Ich werde nun melancholisch«, sagte er und legte seine riesige Hand über die Augen. »Sehen Sie, das kommt so über mich. Da habe ich nun Kaffee mit Ihnen getrunken, und es hat mir geschmeckt, und auf einmal kommt es über mich, daß ich melancholisch werde. Die Herren müssen mich nun schon entschuldigen. Es war mir was Besonderes und hat mir allen möglichen Spaß gemacht …«
    Die Vettern waren aufgesprungen. Sie machten sich Vorwürfe, sagten sie, den Herrn Hofrat so lange … Er gab beru {405} higende Gegenversicherungen. Hans Castorp beeilte sich, Frau Chauchats Porträt ins Nebenzimmer zu tragen und wieder an seinen Platz zu hängen. Sie betraten den Garten nicht mehr, um in ihr Quartier zu gelangen. Behrens wies ihnen den Weg durch das Gebäude, indem er sie bis zur Verbindungsglastür geleitete. Sein Nacken schien stärker als sonst herauszutreten in dem Gemütszustand, der plötzlich über ihn gekommen war, er blinzelte mit seinen Quellaugen, und sein infolge der einseitigen Lippenschürzung schiefes Schnurrbärtchen hatte einen kläglichen Ausdruck gewonnen.
    Während sie über Korridore und Treppen gingen, sagte Hans Castorp:
    »Gib zu, daß das eine gute Idee von mir war.«
    »Jedenfalls war es eine Abwechslung«, erwiderte Joachim. »Und ausgesprochen habt ihr euch ja über mancherlei Dinge bei dieser Gelegenheit, das muß man sagen. Mir ging es sogar ein bißchen zu sehr drüber und drunter. Es ist nun hohe Zeit, daß wir vorm Tee doch wenigstens noch auf zwanzig Minuten in den Liegedienst kommen. Du findest es vielleicht ete-pe-tete von mir, daß ich so darauf halte, – durchgängerisch, wie du neuerdings bist. Aber du hast es ja schließlich auch nicht so nötig wie ich.«

Forschungen
    So kam, was kommen mußte, und was hier zu erleben Hans Castorp noch vor kurzem sich nicht hätte träumen lassen: der Winter fiel ein, der hiesige Winter, den Joachim schon kannte, da der vorige noch in voller Herrschaft gewesen, als er hier

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