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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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eingestandenermaßen überhaupt nicht krank waren und vollkommen freiwillig, unter dem offiziellen Vorwande leichter Angegriffenheit, in Wirklichkeit aber nur zu ihrem Vergnügen und weil die Lebensform der Kranken ihnen zusagte, hier lebten, wie die schon beiläufig erwähnte Witwe Hessenfeld, eine lebhafte Frau, deren Leidenschaft das Wetten war: sie wettete mit den Herren, wettete auf alles und um alles, wettete auf das Wetter, das eintreten, die Gerichte, die es geben würde, auf das Ergebnis von Generaluntersuchungen und darauf, wieviel Monate jemandem zugelegt werden würden, auf gewisse Bobs, Eisschlitten, Schlittschuh- oder Ski-Champions bei sportlichen Konkurrenzen, auf den Verlauf sich anspinnender Liebesgeschichten unter den Gästen und auf hundert andere, oft gänzlich unerhebliche und gleichgültige Dinge, wettete um Schokolade, um Champagner und Kaviar, die dann im Restaurant festlicherweise verzehrt wurden, um Geld, um Kinobilletts und selbst um Küsse, zu gebende und zu nehmende, – kurzum, sie brachte mit dieser ihrer Passion viel Spannung und Leben in den Speisesaal, nur daß ihr Treiben den jungen Hans Castorp natürlich sehr ernst nicht dünken wollte, ja, daß ihr bloßes Vorhandensein ihm als Beeinträchtigung der Würde eines Leidensortes erschien.
    {450} Denn diese Würde zu schützen und vor sich selber aufrecht zu halten, war er im Innern treulich bestrebt, so schwer es ihm fallen mochte nach einem nun fast halbjährigen Aufenthalt unter Denen hier oben. Die Einblicke, die er nach und nach in ihr Leben und Treiben, ihre Sitten und Anschauungen getan, waren seinem guten Willen wenig behilflich. Da waren jene beiden mageren Stutzerchen, siebzehn- und achtzehnjährig und »Max und Moritz« genannt, deren abendliches Aussteigen zum Zwecke des Pokerns und der Zechereien in Damengesellschaft dem Gerede viel Stoff bot. Kürzlich, das heißt etwa acht Tage nach Neujahr (denn man muß festhalten, daß, während wir erzählen, die Zeit in ihrer still strömenden Art rastlos fortschreitet), hatte sich beim Frühstück die Nachricht verbreitet, der Bademeister habe die beiden morgens in zerknitterten Gesellschaftsanzügen auf ihren Betten betroffen. Auch Hans Castorp lachte; aber wenn es beschämend für seinen guten Willen war, so war es noch gar nicht viel im Vergleich mit den Geschichten des Rechtsanwalts Einhuf aus Jüterbog, eines spitzbärtigen Vierzigers mit schwarzbehaarten Händen, der seit einiger Zeit an Stelle des genesenen Schweden am Tisch Settembrinis saß und nicht nur jede Nacht betrunken nach Hause kam, sondern dies neulich überhaupt nicht getan hatte, vielmehr auf der Wiese gefunden worden war. Er galt für einen gefährlichen Liederjahn, und Frau Stöhr konnte auf die – im Tiefland übrigens verlobte – junge Dame mit ihrem Finger weisen, die man zu einer bestimmten Stunde aus Einhufs Zimmer hatte treten sehen, bekleidet nur mit einem Pelz, unter dem sie nichts weiter als eine Reformhose getragen haben sollte. Das war skandalös, – nicht nur in allgemein moralischem Sinn, sondern skandalös und beleidigend für Hans Castorp persönlich, im Sinn seiner geistigen Bemühungen. Es kam aber hinzu, daß er an die Person des Rechtsanwalts nicht denken konnte, ohne auch Fränzchen Oberdank mit einzubeziehen, {451} jenes glattgescheitelte Haustöchterchen, das vor wenigen Wochen von ihrer Mutter, einer würdigen Provinzdame, heraufgeleitet worden war. Fränzchen Oberdank hatte bei ihrer Ankunft und nach der ersten Untersuchung für leichtkrank gegolten; aber mochte sie Fehler begangen haben, mochte ein Fall vorliegen, in dem die Luft zunächst nicht sowohl
gegen
, als vor allen Dingen einmal
für
die Krankheit gut gewesen war, oder mochte die Kleine in irgendwelche Intrigen und Aufregungen verstrickt worden sein, die ihr geschadet hatten: vier Wochen nach ihrem Eintritt geschah es, daß sie, von einer neuen Untersuchung kommend, beim Betreten des Speisesaals ihr Handtäschchen in die Luft warf und mit heller Stimme ausrief: »Hurra, ein Jahr muß ich bleiben!!« – worüber im ganzen Saal ein homerisches Gelächter sich verbreitet hatte. Aber vierzehn Tage später war die Nachricht in Umlauf gekommen, daß Rechtsanwalt Einhuf an Fränzchen Oberdank wie ein Schurke gehandelt habe. Übrigens kommt dieser Ausdruck auf unsere Rechnung oder allenfalls auf die Hans Castorps; denn den Trägern der Nachricht schien diese ihrem Wesen nach wohl nicht neu genug, um zu so starken Worten

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