Der Zauberberg
anzuregen. Auch gaben sie achselzuckend zu verstehen, daß zu solchen Geschichten ja zweie gehörten, und daß vermutlich nichts gegen Wunsch und Willen eines Beteiligten geschehen sei. Wenigstens war dies Frau Stöhrs Verhalten und sittliche Stimmung in fraglicher Angelegenheit.
Karoline Stöhr war entsetzlich. Wenn irgend etwas den jungen Hans Castorp in seinen redlich gemeinten geistigen Bemühungen störte, so war es das Sein und Wesen dieser Frau. Ihre beständigen Bildungsschnitzer hätten genügt. Sie sagte »Agonje« statt »Todeskampf«; »insolvent«, wenn sie jemandem Frechheit zum Vorwurf machte, und gab über die astronomischen Vorgänge, die eine Sonnenfinsternis zeitigen, den greulichsten Unsinn zum besten. Mit den liegenden Schneemassen, {452} sagte sie, sei es »eine wahre Kapazität«; und eines Tages setzte sie Herrn Settembrini in lang andauerndes Erstaunen durch die Mitteilung, sie lese zur Zeit ein der Anstaltsbibliothek entnommenes Buch, das ihn angehe, nämlich »Benedetto Cenelli in der Übersetzung von Schiller«! Sie liebte Redensarten, die dem jungen Hans Castorp, ihrer Abgeschmacktheit und modisch ordinären Verbrauchtheit wegen, auf die Nerven gingen, wie zum Beispiel: »Das ist die Höhe!« oder: »Du ahnst es nicht!« Und da die Bezeichnung »blendend«, die das Modemaul lange Zeit für »glänzend« oder »vorzüglich« gebraucht hatte, sich als gänzlich ausgelaugt, entkräftet, prostituiert und sohin veraltet erwies, so warf sie sich auf das Neueste, nämlich das Wort »verheerend«, und fand nun, im Ernst oder höhnischerweise, alles »verheerend«, die Schlittenbahn, die Mehlspeise und ihre eigene Leibeswärme, was ebenfalls ekelhaft anmutete. Hinzu kam ihre Klatschsucht, die unmäßig war. Mochte sie immerhin erzählen, Frau Salomon trage heute die kostbarste Spitzenwäsche, denn sie sei zur Untersuchung bestellt und ziere sich dabei vor den Ärzten mit feinem Unterzeug: – es hatte seine Richtigkeit damit, Hans Castorp selbst hatte den Eindruck gewonnen, daß die Prozedur der Untersuchung, unabhängig von ihrem Ergebnis, den Damen Vergnügen bereite, und daß sie sich kokett dafür schmückten. Aber was sollte man zu Frau Stöhrs Versicherung sagen, Frau Redisch aus Posen, die im Verdacht tuberkulösen Rückenmarks stehe, müsse wöchentlich einmal zehn Minuten lang vollständig nackt vor Hofrat Behrens im Zimmer hin und her marschieren? Die Unwahrscheinlichkeit dieser Behauptung kam fast ihrer Anstößigkeit gleich, aber Frau Stöhr verfocht und beschwor sie aufs äußerste, – obgleich schwer begreiflich erschien, wie die Arme auf Dinge, wie diese, so viel Eifer, Nachdruck und Rechthaberei verwenden mochte, da ihre eigensten Angelegenheiten ihr schwer zu schaffen machten. Denn zwischendurch suchten Anfälle von {453} feiger und weinerlicher Besorgnis sie heim, deren Anlaß ihre angeblich zunehmende »Schlaffheit« oder das Ansteigen ihrer Kurve war. Sie kam schluchzend zu Tisch, die spröden roten Backen von Tränen überströmt und heulte in ihr Taschentuch, daß Behrens sie in ihr Bett schicken wolle, sie aber wolle wissen, was er hinter ihrem Rücken gesagt habe, was ihr fehle, wie es um sie stehe, sie wolle der Wahrheit ins Auge sehen! Zu ihrem Entsetzen hatte sie eines Tages bemerkt, daß ihr Bett mit dem Fußende in der Richtung der Haustür stehe und erlitt fast Krämpfe dieser Entdeckung wegen. Man verstand ihre Wut, ihr Grauen nicht ohne weiteres, Hans Castorp im besonderen verstand sich nicht gleich darauf. Nun und? Wieso? Warum das Bett nicht stehen solle, wie es stehe? – Aber ob er, um Gottes willen, denn nicht begreife! »
Die Füße voran …!
« Sie schlug verzweifelten Lärm, und sofort mußte das Bett umgestellt werden, obgleich sie fortan vom Kissen ins Licht sah, was ihren Schlaf beeinträchtigte.
Das alles war unernst; es kam Hans Castorps geistigen Bedürfnissen sehr wenig entgegen. Ein schreckhafter Zwischenfall, der sich um diese Zeit während einer Mahlzeit ereignete, machte besonderen Eindruck auf den jungen Mann. Ein noch neuer Patient, der Lehrer Popów, ein magerer und stiller Mensch, der mit seiner ebenfalls mageren und stillen Braut am Guten Russentisch Platz gefunden hatte, erwies sich, da eben das Essen in vollem Gange war, als epileptisch, indem er einen krassen Anfall dieser Art erlitt, mit jenem Schrei, dessen dämonischer und außermenschlicher Charakter oft geschildert worden ist, zu Boden stürzte und neben seinem Stuhle unter
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