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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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den scheußlichsten Verrenkungen mit Armen und Beinen um sich schlug. Erschwerend wirkte, daß es ein Fischgericht war, das eben gereicht worden, so daß zu befürchten stand, Popów möchte in seiner Krampfverzückung an einer Gräte Schaden nehmen. Der Aufruhr war unbeschreiblich. Die Damen, Frau {454} Stöhr voran, aber ohne daß etwa die Frauen Salomon, Redisch, Hessenfeld, Magnus, Iltis, Levi und wie sie nun heißen mochten, ihr etwas nachgegeben hätten, wurden von den verschiedensten Zuständen betreten, so daß einige es Herrn Popów fast gleichtaten. Ihre Schreie gellten. Man sah nichts als zugekrampfte Augen, offene Münder und verdrehte Oberkörper. Eine einzelne gab stiller Ohnmacht den Vorzug. Erstickungsanfälle, da jedermann von dem wilden Ereignis im Kauen und Schlucken überrascht worden war, spielten sich ab. Ein Teil der Tischgesellschaft suchte durch die verfügbaren Ausgänge das Weite, auch durch die Verandatüren, obgleich es draußen sehr naßkalt war. Es trug aber der ganze Vorfall ein eigentümliches und außer seiner Entsetzlichkeit auch anstößiges Tonzeichen, und zwar vermöge einer allgemein sich aufdrängenden Ideenverbindung, die an den jüngsten Vortrag Dr. Krokowskis anknüpfte. Der Analytiker war nämlich bei seinen Ausführungen über die Liebe als krankheitbildende Macht gerade am letzten Montag auf die Fallsucht zu reden gekommen und hatte dies Leiden, worin die Menschheit in voranalytischen Zeiten abwechselnd eine heilige, ja prophetische Heimsuchung und eine Teufelsbesessenheit gesehen, mit halb poetischen, halb unerbittlich wissenschaftlichen Worten als Äquivalent der Liebe und Orgasmus des Gehirns angesprochen, kurz, es in einem solchen Sinne verdächtigt, daß seine Zuhörer die Aufführung des Lehrers Popów, diese Illustration des Vortrags, als wüste Offenbarung und mysteriösen Skandal verstehen mußten, so daß denn auch in dem verhüllten Entfliehen der Damen eine gewisse Schamhaftigkeit sich ausdrückte. Der Hofrat selbst war bei der Mahlzeit zugegen, und er war es, der, zusammen mit der Mylendonk und einigen jungen, handfesten Tafelgenossen, den Ekstatiker, blau, schäumend, steif und verzerrt, wie er war, aus dem Saal in die Halle schaffte, wo man die Ärzte, die Oberin und anderes Personal noch längere Zeit an {455} dem Sinnlosen hantieren sah, der dann auf einer Bahre davongetragen wurde. Ganz kurze Zeit danach aber sah man Herrn Popów stillvergnügt, in Gesellschaft seiner ebenfalls stillvergnügten Braut, wieder am Guten Russentisch sitzen und, als sei nichts geschehen, sein Mittagessen beenden!
    Hans Castorp hatte dem Ereignis mit den äußeren Zeichen respektvollen Schreckens beigewohnt, im Grunde aber mutete auch dies ihn nicht ernst an, Gott mochte ihm helfen. Popów hätte an seinem Fischbissen freilich ersticken können, aber in Wirklichkeit war er ja nicht erstickt, sondern hatte, bei aller bewußtlosen Wut und Lustbarkeit, im Stillsten wohl dennoch ein wenig achtgegeben. Nun saß er heiter, aß fertig und tat, als habe er sich nie wie ein Berserker und rasender Trunkenbold benommen, erinnerte sich gewiß auch nicht daran. Auch seine Erscheinung aber war nicht danach angetan, Hans Castorps Ehrfurcht vor dem Leiden zu stärken; auch sie, in ihrer Art, vermehrte die Eindrücke unernster Liederlichkeit, denen er sich widerstrebend hier oben ausgesetzt fand, und denen er durch eine den herrschenden Sitten widersprechende nähere Beschäftigung mit den Schweren und Moribunden entgegenzuwirken wünschte.
    Auf der Etage der Vettern, nicht weit von ihren Zimmern, lag ein ganz junges Mädchen, Leila Gerngroß mit Namen, die den Mitteilungen Schwester Alfredas zufolge im Begriffe war, zu sterben. Sie hatte binnen zehn Tagen vier heftige Blutungen erlitten, und ihre Eltern waren heraufgekommen, um sie vielleicht noch lebend heimzubringen; doch schien das nicht angängig: der Hofrat verneinte die Transportfähigkeit der armen kleinen Gerngroß. Sie war sechzehn-, siebzehnjährig. Hans Castorp sah hier die rechte Gelegenheit, seinen Plan mit dem Blumentopf und den Genesungswünschen zu verwirklichen. Zwar hatte Leila jetzt nicht Geburtstag, würde diesen auch, menschlicher Voraussicht nach, nicht mehr erleben, da er, wie {456} Hans Castorp ausgekundschaftet, erst in das Frühjahr fiel; doch brauchte das seiner Entscheidung nach kein Hindernis für eine solche barmherzige Huldigung zu sein. Auf einem Mittagsgange in die Gegend des Kurhauses trat er mit seinem

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