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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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leicht vorgeschobener Kopfhaltung etwas {493} heraustretenden Genickwirbel unter dem lockeren Nackenhaar sichtbar blieben, das aber Clawdias Arme bis zu den Schultern hinauf frei ließ, – ihre Arme, die zart und voll waren zugleich, – kühl dabei, aller Mutmaßung nach, und außerordentlich weiß gegen die seidige Dunkelheit des Kleides abstachen, auf eine so erschütternde Art, daß Hans Castorp, die Augen schließend, in sich hineinflüsterte: »Mein Gott!« – Er hatte diese Art Kleiderschnitt noch nie gesehen. Er kannte Balltoiletten, festlich statthafte, ja vorschriftsmäßige Enthüllungen, die weit umfassender gewesen waren als diese hier, ohne im entferntesten so sensationell zu wirken. Als Irrtum erwies sich vor allem die ältere Annahme des armen Hans Castorp, daß die Lockung, die vernunftwidrige Lockung dieser Arme, deren Bekanntschaft er durch dünne Gaze hindurch bereits gemacht hatte, ohne eine so ahndevolle »Verklärung«, wie er es damals genannt, sich vielleicht als weniger tief erweisen werde. Irrtum! Verhängnisvolle Selbsttäuschung! Die volle, hochbetonte und blendende Nacktheit dieser herrlichen Glieder eines giftkranken Organismus war ein Ereignis, weit stärker sich erweisend, als die Verklärung von damals, eine Erscheinung, auf die es keine andere Antwort gab, als den Kopf zu senken und lautlos zu wiederholen: »Mein Gott!«
    Etwas später kam noch ein Zettel, auf dem es hieß:
    »Gesellschaft, wie man wünschen kann.
    Wahrhaftig, lauter Bräute!
    Und Junggesellen Mann für Mann,
    Die hoffnungsvollsten Leute!«
    »Bravo, bravo!« wurde gerufen. Man war schon beim Mokka, der in kleinen irden-braunen Kännchen serviert wurde, beziehungsweise auch bei den Likören, zum Beispiel Frau Stöhr, die Süß-Geistiges für ihr Leben gern schlürfte. Die Gesellschaft begann sich aufzulösen, zu zirkulieren. Man besuchte einan {494} der, wechselte die Tische. Ein Teil der Gäste hatte sich schon in die Konversationsräume verzogen, während ein anderer seßhaft blieb, dem Weingemisch weiter zusprechend. Settembrini kam nun persönlich herüber, sein Kaffeetäßchen in der Hand, den Zahnstocher zwischen den Lippen, und setzte sich hospitierend an die Tischecke zwischen Hans Castorp und die Lehrerin.
    »Harzgebirg«, sagte er. »Gegend von Schierke und Elend. Habe ich Ihnen zu viel versprochen, Ingenieur? Heiß ich mir das doch eine Messe! Aber warten Sie nur, unser Witz erschöpft sich nicht so bald, wir sind noch nicht auf der Höhe, geschweige am Ende. Nach allem, was man hört, wird es noch mehr Masken geben. Gewisse Personen haben sich zurückgezogen, – das berechtigt zu allerlei Erwartungen, Sie werden sehen.«
    Wirklich tauchten neue Verkleidungen auf: Damen in Herrentracht, operettenhaft und unwahrscheinlich durch ausladende Formen, die Gesichter bärtig geschwärzt mit angekohltem Flaschenkork; Herren, umgekehrt, die Frauenroben angelegt hatten, über deren Röcke sie strauchelten, wie zum Beispiel Studiosus Rasmussen, welcher, in schwarzer, jettübersäter Toilette, ein pickliges Dekolleté zur Schau stellte, das er sich mit einem Papierfächer kühlte, und zwar auch den Rücken. Ein Bettelmann erschien knickbeinig, an einer Krücke hängend. Jemand hatte sich aus weißem Unterzeug und einem Damenfilz ein Pierrotkostüm hergestellt, das Gesicht gepudert, so daß seine Augen ein unnatürliches Aussehen gewannen, und den Mund mit Lippenpomade blutig aufgehöht. Es war der Junge mit dem Fingernagel. Ein Grieche vom Schlechten Russentisch, mit schönen Beinen, stolzierte in lila Trikotunterhosen, mit Mäntelchen, Papierkrause und einem Stockdegen als spanischer Grande oder Märchenprinz daher. Alle diese Masken waren nach Schluß der Mahlzeit eilig improvisiert worden. Es litt {495} Frau Stöhr nicht länger auf ihrem Stuhl. Sie verschwand, um nach kurzer Zeit als Scheuerweib wiederzukehren, mit geschürztem Rock und aufgestülpten Ärmeln, die Bänder ihrer Papierhaube unter dem Kinn geknotet und bewaffnet mit Eimer und Besen, die sie zu handhaben begann, indem sie mit dem nassen Schrubber unter die Tische, den Sitzenden zwischen die Füße fuhr.
     
    »Die alte Baubo kommt allein«,
     
    rezitierte Settembrini bei ihrem Anblick und fügte auch den Reimvers hinzu, klar und plastisch. Sie hörte es, nannte ihn »welscher Hahn« und forderte ihn auf, seine »Zötchen« für sich zu behalten, wobei sie ihn im Geiste der Maskenfreiheit duzte; denn diese Verkehrsform war schon während des

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