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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Essens allgemein aufgenommen worden. Er schickte sich an, ihr zu antworten, als Lärm und Gelächter von der Halle her ihn unterbrachen und Aufsehen im Saal erregten.
    Gefolgt von Gästen, die aus den Konversationsräumen kamen, hielten zwei sonderbare Figuren ihren Einzug, die mit der Kostümierung wohl eben erst fertig geworden waren. Die eine war als Diakonissin angezogen, doch war ihr schwarzes Habit vom Hals bis zum Saume mit weißen Bandstreifen quer benäht, kurzen, die nahe untereinander lagen, und seltneren, die über jene hinausragten, nach Art der Liniatur eines Thermometers. Sie hielt den Zeigefinger vor ihren bleichen Mund und trug in der Rechten eine Fiebertabelle. Die andere Maske erschien blau in Blau: mit blau gefärbten Lippen und Brauen, auch sonst im Gesicht und am Halse noch blau bemalt, eine blaue Wollmütze schief übers Ohr gezogen und bekleidet mit einem An- oder Überzuge aus blauem Glanzleinen, der, aus einem Stück gearbeitet, an den Knöcheln mit Bändern zugezogen und in der Mitte zum Rundbauche ausgestopft war. Man erkannte Frau Iltis und Herrn Albin. Beide trugen Pappschilder umgehängt, {496} auf denen geschrieben stand: »Die stumme Schwester« und: »Der blaue Heinrich«. In einer Art Wackelschritt zogen sie selbander um den Saal.
    Das gab einen Beifall! Die Zurufe schwirrten. Frau Stöhr, ihren Besen unter dem Arm, die Hände auf den Knien, lachte maßlos und ordinär nach Herzenslust, unter Vorwendung ihrer Rolle als Scheuerweib. Nur Settembrini zeigte sich unzugänglich. Seine Lippen, unter dem schön geschwungenen Schnurrbart, wurden äußerst schmal, nachdem er einen kurzen Blick auf das erfolgreiche Maskenpaar geworfen.
    Unter denen, die im Gefolge des Blauen und der Stummen aus den Konversationszimmern wieder herübergekommen waren, befand sich auch Clawdia Chauchat. Zusammen mit der wollhaarigen Tamara und jenem Tischgenossen mit dem konkaven Brustkasten, einem gewissen Buligin, der Abendanzug trug, strich sie in ihrem neuen Kleid an Hans Castorps Tische vorbei und bewegte sich schräg hinüber zu dem des jungen Gänser und der Kleefeld, wo sie, die Hände auf dem Rücken, mit schmalen Augen lachend und plaudernd stehen blieb, während ihre Begleiter den allegorischen Gespenstern weiter folgten und mit ihnen den Saal wieder verließen. Auch Frau Chauchat hatte sich mit einer Faschingsmütze geschmückt, – es war nicht einmal eine gekaufte, sondern von der Art, wie man sie Kindern anfertigt, aus weißem Papiere einfach zum Dreispitz zurechtgefaltet, und kleidete sie übrigens, quer aufgesetzt, vorzüglich. Das dunkelgoldbraune Seidenkleid war fußfrei, der Rock etwas bauschig gearbeitet. Wir sagen von den Armen hier nichts mehr. Sie waren nackt bis zu den Schultern hinauf.
    »Betrachte sie genau!« hörte Hans Castorp Herrn Settembrini wie von weitem sagen, während er ihr, die bald weiterging, gegen die Glastür, zum Saal hinaus, mit den Blicken folgte. »Lilith ist das.«
    {497} »Wer?« fragte Hans Castorp.
    Der Literat freute sich. Er replizierte:
    »Adams erste Frau. Nimm dich in acht …«
    Außer ihnen beiden saß nur noch Dr. Blumenkohl am Tische, an seinem entfernten Platz. Die übrige Speisegesellschaft, auch Joachim, war in die Konversationsräume übergesiedelt. Hans Castorp sagte:
    »Du steckst heute voller Poesie und Versen. Was ist nun das wieder für eine Lilli? War Adam also zweimal verheiratet? Ich hatte keine Ahnung …«
    »Die hebräische Sage will es so. Diese Lilith ist zum Nachtspuk geworden, gefährlich für junge Männer besonders durch ihre schönen Haare.«
    »Pfui Teufel! Ein Nachtspuk mit schönen Haaren. So etwas kannst du nicht leiden, was? Da kommst du und drehst das elektrische Licht an, sozusagen, um die jungen Männer auf den rechten Weg zu bringen, – tust du das nicht?« sagte Hans Castorp phantastisch. Er hatte ziemlich viel von der Weinmischung getrunken.
    »Hören Sie, Ingenieur, lassen Sie das!« befahl Settembrini mit zusammengezogenen Brauen. »Bedienen Sie sich der im gebildeten Abendlande üblichen Form der Anrede, der dritten Person pluralis, wenn ich bitten darf! Es steht Ihnen gar nicht zu Gesicht, worin Sie sich da versuchen.«
    »Aber wieso? Wir haben Karneval! Es ist allgemein akzeptiert heute abend …«
    »Ja, um eines ungesitteten Reizes willen. Das ›Du‹ unter Fremden, das heißt unter Personen, die einander von Rechtes wegen ›Sie‹ nennen, ist eine widerwärtige Wildheit, ein Spiel mit dem Urstande, ein

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