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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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ernstlich schuldig fühle und den Weg zur Blutbühne aus Überzeugung gehe?
    Allerdings. Der Verbrecher sei von seiner Schuld durchdrungen wie von sich selbst. Denn er sei, wie er sei, und könne und wolle nicht anders sein, und dies eben sei die Schuld. Herr Naphta verlegte Schuld und Verdienst aus dem Empirischen ins Metaphysische. Im Tun, im Handeln herrsche freilich Determination, hier gebe es keine Freiheit, wohl aber im Sein. Der Mensch sei, wie er habe sein wollen und bis zu seiner Vertilgung sein zu wollen nicht aufhören werde; er habe eben »für sein Leben« gern getötet und bezahle folglich mit seinem Leben nicht zu hoch. Er möge sterben, da er die tiefste Lust gebüßt habe.
    Die tiefste Lust?
    Die tiefste.
    Man kniff die Lippen zusammen. Hans Castorp hüstelte. Wehsal hatte den Unterkiefer schief gestellt. Herr Ferge seufzte. Settembrini bemerkte fein:
    »Man sieht, es gibt eine Art, zu verallgemeinern, die den Gegenstand persönlich färbt. Sie hätten Lust, zu töten?«
    »Das geht Sie nichts an. Hätte ich es aber getan, so würde ich {696} einer humanitären Unwissenheit ins Gesicht lachen, die mich bis zu meinem natürlichen Ende mit Linsen füttern wollte. Es hat keinerlei Sinn, daß der Mörder den Gemordeten überlebt. Sie haben, unter vier Augen, allein miteinander, wie zwei Wesen es nur bei einer zweiten, verwandten Gelegenheit noch sind, der eine duldend, der andere handelnd, ein Geheimnis geteilt, das sie auf immer verbindet. Sie gehören zusammen.«
    Settembrini bekannte kühl, daß ihm das Organ für diesen Todes- und Mordmystizismus fehle und daß er es auch nicht vermisse. Nichts gegen die religiösen Talente des Herrn Naphta, – sie seien den seinen unzweifelhaft überlegen, allein er konstatiere seine Neidlosigkeit. Ein unüberwindliches Reinlichkeitsbedürfnis halte ihn einer Sphäre fern, wo jene Reverenz vor dem Elend, von der experimentierende Jugend vorhin gesprochen, offenbar nicht nur in physischer, sondern auch in seelischer Beziehung herrsche, kurz, einer Sphäre, wo Tugend, Vernunft und Gesundheit für nichts gälten, Laster und Krankheit dagegen in wunder welchen Ehren stünden.
    Naphta bestätigte, daß Tugend und Gesundheit in der Tat kein religiöser Zustand seien. Es sei viel gewonnen, sagte er, wenn klargestellt sei, daß Religion mit Vernunft und Sittlichkeit überhaupt nichts zu tun habe. Denn, fügte er hinzu, sie habe nichts mit dem Leben zu tun. Das Leben ruhe auf Bedingungen und Grundlagen, die teils der Erkenntnislehre, teils dem moralischen Gebiet angehörten. Die ersteren hießen Zeit, Raum, Kausalität, die letzteren Sittlichkeit und Vernunft. All diese Dinge seien dem religiösen Wesen nicht nur fremd und gleichgültig, sondern sogar feindlich entgegengesetzt; denn sie seien es eben, die das Leben ausmachten, die sogenannte Gesundheit, das heiße: die Erzphilisterei und Urbürgerlichkeit, als deren absolutes, und zwar absolut geniales Gegenteil die religiöse Welt eben zu bestimmen sei. Übrigens wolle er, Naphta, der Lebenssphäre die Möglichkeit des Genies nicht völlig {697} absprechen. Es gebe eine Lebensbürgerlichkeit, deren monumentaler Biedersinn unbestreitbar sei, eine Philistermajestät, die man verehrungswürdig finden möge, sofern man festhalte, daß sie in ihrer breitbeinig aufgepflanzten Würde, Hände auf dem Rücken und Brust heraus, die inkarnierte Irreligiosität bedeute.
    Hans Castorp hob den Zeigefinger, wie in der Schule. Er wünsche nach keiner Seite anzustoßen, sagte er, aber hier sei offenbar vom Fortschritt die Rede, vom menschlichen Fortschritt, also gewissermaßen von Politik und der beredsamen Republik und der Zivilisation des gebildeten Westens, und da meine er nun, daß der Unterschied, oder, wenn Herr Naphta denn durchaus wolle, der Gegensatz von Leben und Religion auf den von Zeit und Ewigkeit zurückzuführen sei. Denn Fortschritt sei nur in der Zeit; in der Ewigkeit sei keiner und auch keine Politik und Eloquenz. Dort lege man, sozusagen, in Gott den Kopf zurück und schließe die Augen. Und das sei der Unterschied von Religion und Sittlichkeit, konfus ausgedrückt.
    Die Naivität seiner Ausdrucksweise, sprach Settembrini, sei weniger bedenklich, als seine Scheu vor dem Anstoß und seine Neigung, dem Teufel Zugeständnisse zu machen.
    Na, über den Teufel hatten sie ja schon vor Jahr und Tag diskuriert, Herr Settembrini und er, Hans Castorp. »O Satana, o ribellione!« Welchem Teufel er denn nun eigentlich

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