Der Zauberberg
denn alles ging nicht nur gegeneinander, sondern auch durcheinander, und nicht nur wechselseitig widersprachen sich die Disputanten, sondern sie lagen in Widerspruch auch mit sich selbst. Settembrini hatte oft genug rednerische Vivats auf die »Kritik« ausgebracht, wo er nun das Gegenteil davon, welches die »Kunst« sein sollte, als das adelige Prinzip in Anspruch nahm; und während Naphta mehr als einmal als Verteidiger des »natürlichen Instinktes« aufgetreten war, gegen Settembrini, der Natur als die »dumme Macht«, als bloßes Faktum und Fatum traktiert hatte, wovor Vernunft und Menschenstolz nicht abdanken durften, faßte jener nun Posto auf seiten des Geistes und der »Krankheit«, allwo Adel und Menschheit einzig zu finden seien, indes dieser sich zum Anwalt der Natur und ihres Gesundheitsadels aufwarf, uneingedenk aller Emanzipation. Nicht weniger verworren stand es mit dem »Objekt« und dem »Ich«, ja, hier war die Konfusion, die übrigens immer dieselbe war, sogar am heillosesten und buchstäblich derart, daß niemand mehr wußte, wer eigentlich der Fromme und wer der Freie war. Naphta verbot Herrn Settembrini mit scharfen Worten, sich einen »Individualisten« zu nennen, denn er leugne den {703} Gegensatz von Gott und Natur, verstehe unter der Frage des Menschen, dem innerpersönlichen Konflikt, einzig denjenigen der Einzel- und der gesamtheitlichen Interessen und sei also auf eine lebengebundene und bürgerliche Sittlichkeit eingeschworen, die das Leben als Selbstzweck nehme, unheroischerweise auf den Nutzen abziele und im Zweck des Staates das moralische Gesetz erblicke; – während dagegen er, Naphta, wohl wissend, daß das innermenschliche Problem vielmehr auf dem Widerstreit des Sinnlichen und des Übersinnlichen beruhe, den wahren, den mystischen Individualismus vertrete und recht eigentlich der Mann der Freiheit und des Subjektes sei. War er das aber, wie, dachte Hans Castorp, verhielt es sich dann mit der »Anonymität und Gemeinsamkeit«, – um nur gleich
eine
Unstimmigkeit beispielsweise hervorzuheben? Wie ferner mit den markanten Dingen, die er im Kolloquium mit Pater Unterpertinger über die »Katholizität« des Staatsphilosophen Hegel zum besten gegeben, über die innere Verbundenheit der Begriffe »Politisch« und »Katholisch« und die Kategorie des Objektiven, die sie gemeinsam bildeten? Hatten nicht Staatskunst und Erziehung immer das spezielle Betätigungsfeld von Naphtas Orden abgegeben? Und was für eine Erziehung! Herr Settembrini war gewiß ein eifriger Pädagog, eifrig bis zum Störenden und Lästigen; aber in Hinsicht auf asketisch ich-verächterische Sachlichkeit konnten seine Prinzipien mit denen Naphtas überhaupt keinen Wettstreit wagen. Absoluter Befehl! Eiserne Bindung! Vergewaltigung! Gehorsam! Der Terror! Das mochte wohl seine Ehre haben, aber auf die kritische Würde des Einzelwesens nahm es nur wenig Bedacht. Es war das Exerzierreglement des preußischen Friederich und des spanischen Loyola, fromm und stramm bis aufs Blut; wobei sich nur eines fragte: wie nämlich Naphta eigentlich zur blutigen Unbedingtheit kam, da er eingestandenermaßen an gar keine reine Erkenntnis und voraussetzungslose {704} Forschung, kurz, nicht an die Wahrheit glaubte, die objektive, wissenschaftliche Wahrheit, der nachzustreben für Lodovico Settembrini das oberste Gesetz aller Menschensittlichkeit bedeutete. Das war fromm und streng von Herrn Settembrini, während es von Naphta lax und liederlich war, die Wahrheit auf den Menschen zurückzubeziehen und zu erklären, Wahrheit sei, was diesem fromme! War es nicht geradezu Lebensbürgerlichkeit und Nützlichkeitsphilisterei, die Wahrheit solchermaßen vom Interesse des Menschen abhängig zu machen? Eiserne Sachlichkeit war das genau genommen nicht, es war mehr von Freiheit und Subjekt darin, als Leo Naphta wahr haben wollte, – wenn es auch freilich auf ganz ähnliche Weise »Politik« war, wie Herrn Settembrinis lehrhafte Äußerung: Freiheit sei das Gesetz der Menschenliebe. Das hieß offenbar, die Freiheit binden, wie Naphta die Wahrheit band: nämlich an den Menschen. Es war entschieden mehr fromm als frei, und dies wiederum war ein Unterschied, der bei solchen Bestimmungen Gefahr lief, abhanden zu kommen. Ach, dieser Herr Settembrini! Nicht umsonst war er ein Literat, das hieß: eines Politikers Enkel und Sohn eines Humanisten. Auf Kritik und schöne Emanzipation war er hochherzig bedacht und trällerte die Mädchen auf der
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