Der Zauberberg
auf dem Wege leichtester und rechtmäßigster Assoziation, stelle sich auch die Idee der Liebenswürdigkeit ein, so innig nahe verwandt jener ersten, daß man sagen dürfe, nur das wahrhaft Lebenswürdige sei auch wahrhaft liebenswürdig. Beides zusammen aber, das Lebens- und also Liebenswürdige, mache das aus, was man das Vornehme nenne.
Hans Castorp fand das reizend und überaus hörenswert. Ganz gewonnen, sagte er, habe ihn Herr Settembrini mit seiner plastischen Theorie. Denn man möge sagen, was man wolle – und einiges sagen lasse sich ja, zum Beispiel, daß Krankheit ein erhöhter Lebenszustand sei und also was Festliches habe –: soviel sei gewiß, daß Krankheit eine Überbetonung des Körperlichen bedeute, den Menschen gleichsam ganz und gar auf seinen Körper zurückweise und zurückwerfe und so der Würde des Menschen bis zur Vernichtung abträglich sei, indem sie ihn nämlich zum bloßen Körper herabwürdige. Krankheit sei also unmenschlich.
Krankheit sei höchst menschlich, setzte Naphta sofort dagegen; denn Mensch sein, heiße krank sein. Allerdings, der Mensch sei wesentlich krank, sein Kranksein eben mache ihn zum Menschen, und wer ihn gesund machen, ihn veranlassen wolle, seinen Frieden mit der Natur zu schließen, »zurück zur Natur zu kehren« (während er doch nie natürlich gewesen sei), alles was sich heute von Regeneratoren, Rohköstlern, Freilüftlern, Sonnenbademeistern und so fort prophetisch umhertreibe, jede Art Rousseau also erstrebe nichts als seine Entmenschung und Vertierung … Menschlichkeit? Vornehmheit? Der Geist sei es, was den Menschen, dies von der Natur in hohem Grade gelöste, in hohem Maße sich ihr entgegengesetzt füh {701} lende Wesen vor allem übrigen organischen Leben auszeichne. Im Geist also, in der Krankheit beruhe die Würde des Menschen und seine Vornehmheit; er sei, mit einem Worte, in desto höherem Grade Mensch, je kränker er sei, und der Genius der Krankheit sei menschlicher, als der der Gesundheit. Es befremde, daß jemand, der den Menschenliebhaber spiele, vor solchen Grundwahrheiten der Menschlichkeit die Augen verschließe. Herr Settembrini führe den Fortschritt im Munde. Als ob aber nicht der Fortschritt, so weit dergleichen existiere, einzig der Krankheit verdankt werde, das heiße: dem Genie, – als welches nichts anderes als eben Krankheit sei! Als ob nicht die Gesunden allezeit von den Errungenschaften der Krankheit gelebt hätten! Es habe Menschen gegeben, die bewußt und willentlich in Krankheit und Wahnsinn gegangen seien, um der Menschheit Erkenntnisse zu gewinnen, die zur Gesundheit würden, nachdem sie durch Wahnsinn errungen worden, und deren Besitz und Nutznießung nach jener heroischen Opfertat nicht länger durch Krankheit und Wahnsinn bedingt sei. Das sei der wahre Kreuzestod …
Aha, dachte Hans Castorp, du inkorrekter Jesuit mit deinen Kombinationen und deiner Auslegung des Kreuzestodes! Man sieht schon, warum du nicht Pater geworden bist, joli jésuite à la petite tache humide! Nun brülle du, Löwe! wandte er sich innerlich an Herrn Settembrini. Und dieser »brüllte«, indem er das alles, was Naphta eben behauptet, für Blendwerk, Rabulistik, Weltverwirrung erklärte. »Sagen Sie es doch,« rief er dem Widersacher zu, »sagen Sie es doch, in Ihrer Verantwortlichkeit als Erzieher, sagen Sie es vor den Ohren bildsamer Jugend gerade heraus, daß Geist – Krankheit sei! Wahrhaftig, damit werden Sie sie zum Geiste ermutigen, sie für den Glauben an ihn gewinnen! Erklären Sie andererseits Krankheit und Tod für vornehm, Gesundheit und Leben aber für gemein, – das ist die sicherste Methode, den Zögling zum Menschheitsdien {702} ste anzuhalten! Davvero, è criminoso!« Und wie ein Ritter trat er für den Adel der Gesundheit und des Lebens ein, für denjenigen, welchen die Natur verlieh, und dem es um Geist nicht bange zu sein brauchte. Die Gestalt! sagte er, und Naphta sagte hochtrabender Weise: »Der Logos!« Aber der, welcher vom Logos nichts wissen wollte, sagte »Die Vernunft!«, während der Mann des Logos »die Passion« verfocht. Das war konfus. »Das Objekt!« sagte der eine, und der andere: »Das Ich!« Schließlich war sogar von »Kunst« auf der einen und »Kritik« auf der anderen Seite die Rede und jedenfalls immer wieder von »Natur« und »Geist« und davon, was das Vornehmere sei, vom »aristokratischen Problem«. Aber dabei war keine Ordnung und Klärung, nicht einmal eine zweiheitliche und militante;
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