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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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einen Liebesdienst zu erweisen geglaubt, indem man ihm durch die Tortur das Fleisch brach. Asketischer Irrwahn …
    Ob auch die alten Römer darin befangen gewesen seien.
    Die Römer? Ma che!
    Indessen hätten auch sie die Folter als Prozeßmittel gekannt.
    Logische Verlegenheit … Hans Castorp suchte darüber hinwegzuhelfen, indem er selbstherrlich und als könne es seine Sache sein, ein solches Gespräch zu lenken, das Problem der Todesstrafe in die Debatte warf. Die Folter war abgeschafft, obgleich ja die Untersuchungsrichter noch immer ihre Praktiken hätten, den Angeklagten mürbe zu machen. Aber die Todesstrafe schien unsterblich, nicht zu entbehren. Die allerzivilisiertesten Völker hielten daran fest. Die Franzosen hatten mit ihren Deportationen sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Man wußte einfach nicht, was man praktisch mit gewissen menschenähnlichen Wesen anfangen sollte, außer, sie einen Kopf kürzer zu machen.
    Das seien keine »menschenähnlichen Wesen«, belehrte ihn Herr Settembrini; es seien Menschen, wie er, der Ingenieur, und wie der Redende selbst, – nur willensschwach und Opfer einer fehlerhaften Gesellschaft. Und er erzählte von einem Schwerverbrecher, einem vielfachen Mörder, jenem Typ zugehörig, den die Staatsanwälte in ihren Plädoyers als »vertiert«, als »Bestien in Menschengestalt« zu bezeichnen pflegten. Dieser Mann hatte die Wände seiner Zelle mit Versen bedeckt. Und sie waren keineswegs schlecht gewesen, diese Verse, – viel besser als die, welche von Staatsanwälten wohl gelegentlich angefertigt wurden.
    Das werfe ein eigentümliches Licht auf die Kunst, erwiderte Naphta. Aber sonst sei es in keiner Hinsicht bemerkenswert.
    Hans Castorp hatte erwartet, daß Herr Naphta die Hinrichtung werde erhalten wissen wollen. Naphta, meinte er, war {694} wohl ebenso revolutionär wie Herr Settembrini, aber er sei es im erhaltenden Sinn, ein Revolutionär der Erhaltung.
    Die Welt, lächelte Herr Settembrini selbstsicher, werde über die Revolution des antihumanen Rückschlages zur Tagesordnung übergehen. Lieber noch verdächtige Herr Naphta die Kunst, ehe er zugebe, daß sie auch den Verworfensten zum Menschen weihe. Mit solchem Fanatismus sei lichtsuchende Jugend unmöglich zu gewinnen. Eine internationale Liga, deren Ziel die gesetzliche Abschaffung der Todesstrafe in allen gesitteten Ländern sei, habe sich soeben gebildet. Herr Settembrini habe die Ehre, ihr anzugehören. Der Schauplatz ihres ersten Kongresses sei noch zu bestimmen, aber die Menschheit habe Grund, zu vertrauen, daß die Redner, die sich dabei würden vernehmen lassen, mit Argumenten gewappnet sein würden! Und er führte die Argumente an, darunter das von der immer vorhandenen Möglichkeit des Rechtsirrtums, des Justizmordes, sowie das von der niemals fahren zu lassenden Hoffnung auf Besserung; sogar »die Rache ist mein« zitierte er, lehrte auch, daß der Staat, wenn es ihm um Veredelung und nicht um Gewalt zu tun sei, nicht Böses mit Bösem vergelten dürfe, und verwarf den Begriff der »Strafe«, nachdem er vom Boden eines wissenschaftlichen Determinismus aus denjenigen der »Schuld« bekämpft hatte.
    Darauf mußte es »lichtsuchende Jugend« mit ansehen, wie Naphta den Argumenten, einem nach dem anderen, den Hals umdrehte. Er machte sich lustig über die Blutscheu und die Lebensverehrung des Menschenfreundes, behauptete, daß diese Verehrung des Einzellebens nur den allerplattesten bürgerlichen Regenschirmzeitläuften zugehöre, daß aber unter leidlich leidenschaftlichen Umständen, sobald eine einzige Idee, die über die der »Sicherheit« hinausgehe, irgend etwas Überpersönliches, Überindividuelles also, im Spiele sei – und das sei der allein menschenwürdige, im höheren Sinne folglich der {695} normale Zustand – allezeit das Einzelleben nicht nur dem höheren Gedanken ohne Federlesen geopfert, sondern auch freiwillig, vom Individuum aus, unbedenklich in die Schanze geschlagen werden würde. Die Philanthropie seines Herrn Widersachers, sagte er, arbeite darauf hin, dem Leben alle schweren und todernsten Akzente zu nehmen; auf die Kastration des Lebens gehe sie aus, auch mit dem Determinismus ihrer sogenannten Wissenschaft. Aber die Wahrheit sei, daß der Begriff der Schuld durch den Determinismus nicht nur nicht abgeschafft werde, sondern sogar durch ihn noch an Schwere und Schaudern gewönne.
    Das war nicht schlecht. Ob er etwa verlange, daß das unselige Opfer der Gesellschaft sich

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