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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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der Illusion berauschen und weiblich hinnehmen zu lassen. »Mein Gott!« sagte Frau Schönfeld, eine rothaarige und rotäugige Kranke aus Berlin, abends in der Halle zu einem Kavalier mit langen Beinen und eingefallener Brust, der sich auf seiner Karte als »Aviateur diplômé et Enseigne de la Marine allemande« bezeichnete und mit dem Pneumothorax versehen war, übrigens zum Mittagessen im Smoking erschien und dies Kleidungsstück abends wieder ablegte, behauptend, bei der Marine sei das so Vorschrift, – »mein Gott!« sagte sie, indem sie den Enseigne gierig betrachtete, »wie herrlich braun er ist von Höhensonne! Wie ein Adlerjäger sieht er aus, dieser Teufel!« – »Wart, Nixe!« flüsterte er im Lift an ihrem Ohr, so daß eine Gänsehaut sie überlief, »Sie werden mir büßen müssen für Ihr verderbliches Augenspiel!« Und über die Balkons, an den gläsernen Scheidewänden vorbei, fand der Teufel und Adlerjäger den Weg zur Nixe …
    Dennoch fehlte viel, daß die künstliche Höhensonne als wirklicher Ausgleich für den diesjährigen Fehlbetrag an echtem Himmelslicht empfunden worden wäre. Zwei oder drei reine Sonnentage im Monat – Tage, die freilich mit tief-tiefer Sammetbläue hinter den weißen Gipfeln, mit Diamantengeglitzer und köstlich heißem Brande in den Nacken und die Gesichter der Menschen besonders herrlich aus verschwimmendem Nebelgrau und dicker Verhüllung hervorstrahlten – zwei oder drei solcher Tage im Laufe von Wochen, das war zu wenig für das Gemüt von Leuten, deren Schicksal außerordentliche Tröstungsansprüche rechtfertigte, und die innerlich auf einen Pakt pochten, welcher ihnen gegen Verzicht auf die Freuden und Plagen des Flachland-Menschentums ein zwar lebloses, aber ganz leichtes und vergnügliches Leben verbriefte, – sorglos bis zur Aufhebung der Zeit und vollkommen günstig. Es half dem Hofrat wenig, wenn er daran erinnerte, wie wenig auch unter diesen Umständen noch das Berghof-Dasein dem {708} Aufenthalt in einem Bagno oder einem sibirischen Bergwerk gleiche, und welche Vorzüge die hiesige Luft, dünn und leicht wie sie war, leerer Äther des Alls beinahe, arm an irdischen Zusätzen, an Gutem wie Bösem, auch ohne Sonne doch immer noch vor dem Qualm und Brodem der Ebene bewahre: Verdüsterung und Protest griffen um sich, Drohungen mit wilder Abreise waren an der Tagesordnung, und es kam vor, daß sie ausgeführt wurden, trotz solcher Exempel, wie der jüngst erfolgten traurigen Rückkehr Frau Salomons, deren Fall nicht schwer, wenn auch langwierig gewesen war, durch ihren eigenmächtigen Aufenthalt in dem nassen und zugigen Amsterdam aber lebenslänglichen Charakter gewonnen hatte …
    Statt der Sonne jedoch gab es Schnee, Schnee in Massen, so kolossal viel Schnee, wie Hans Castorp in seinem Leben noch nicht gesehen. Der vorige Winter hatte es in dieser Richtung wahrhaftig nicht fehlen lassen, doch waren seine Leistungen schwächlich gewesen im Vergleich mit denen des diesjährigen. Sie waren monströs und maßlos, erfüllten das Gemüt mit dem Bewußtsein der Abenteuerlichkeit und Exzentrizität dieser Sphäre. Es schneite Tag für Tag und die Nächte hindurch, dünn oder in dichtem Gestöber, aber es schneite. Die wenigen gangbar gehaltenen Wege erschienen hohlwegartig, mit übermannshohen Schneewänden zu beiden Seiten, alabasternen Tafelflächen, die in ihrem körnig kristallischen Geflimmer angenehm zu sehen waren und den Berggästen zum Schreiben und Zeichnen dienten, zur Übermittlung von allerlei Nachrichten, Scherzworten und Anzüglichkeiten. Aber auch zwischen den Wänden noch trat man stark aufgehöhten Grund, so tief auch geschaufelt war, das merkte man an lockeren Stellen und Löchern, wo plötzlich der Fuß einsank, tief hinab, wohl bis zum Knie: man hatte gut acht zu geben, daß man nicht unversehens das Bein brach. Die Ruhebänke waren verschwunden, versunken; ein Stück Lehne etwa ragte noch aus ihrem {709} weißen Begräbnis hervor. Drunten im Ort war das Straßenniveau so seltsam verlegt, daß die Läden im Erdgeschoß der Häuser zu Kellern geworden waren, in die man auf Schneestufen von der Höhe des Bürgersteiges hinabstieg.
    Und auf die liegenden Massen schneite es weiter, tagaus, tagein, still niedersinkend bei mäßigem Frost, zehn, fünfzehn Kältegraden, die nicht eben ans Mark gingen, – man spürte sie wenig, es hätten auch fünf oder zwei sein können, Windstille und Lufttrockenheit nahmen ihnen den Stachel. Es war sehr

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