Der Zauberberg
der Ehrgeiz, es den Freiluftgecken und Schicksportlern gleichzutun, die, wäre es eben Parole gewesen, mit ebenso wichtigem Eifer dem Kartenspiel im stickigen Zimmer obgelegen hätten. Durchaus fühlte er sich {714} einer anderen, gebundeneren Gemeinschaft zugehörig, als dem Touristenvölkchen, und unter einem weiteren und neueren Gesichtspunkt noch, auf Grund einer entfremdenden Würde und dämpfenden Verpflichtung war ihm zumute, als sei es nicht seine Sache, sich obenhin zu tummeln gleich jenen und sich im Schnee zu wälzen wie ein Narr. Er hatte keine Eskapaden im Sinn, wollte sich schon mäßig halten, und was er plante, hätte Radamanthys ihm recht wohl gestatten können. Da er’s der Hausordnung halber dennoch verbieten würde, beschloß Hans Castorp, hinter seinem Rücken zu handeln.
Gelegentlich sprach er Herrn Settembrini von seinem Vorhaben. Herr Settembrini hätte ihn vor Freuden beinahe umarmt. »Aber ja, aber ja doch, Ingenieur, um Gottes willen, tun Sie das! Fragen Sie niemanden und tun Sie’s, – Ihr guter Engel hat Ihnen das eingeflüstert! Tun Sie’s sofort, bevor diese gute Lust Sie wieder verläßt! Ich gehe mit Ihnen, ich begleite Sie in das Geschäft, und stehenden Fußes erwerben wir miteinander diese gesegneten Utensilien! Auch in die Berge würde ich Sie begleiten, würde mit Ihnen fahren, Flügelschuhe an den Füßen, wie Mercurio, aber ich darf es nicht … Eh, dürfen! Ich täte es schon, wenn ich es nur ›nicht dürfte‹, aber ich kann’s nicht, ich bin ein verlorener Mann. Dagegen Sie … es wird Ihnen nicht schaden, durchaus nicht, wenn Sie vernünftig sind und nichts übertreiben. Ach was, und schadete es Ihnen sogar ein wenig, so wird es immer noch Ihr guter Engel gewesen sein, welcher … Ich sage nichts weiter. Was für ein exzellenter Plan! Zwei Jahre hier und noch dieses Einfalls fähig, – ah, nein, Ihr Kern ist gut, man hat keinen Grund, an Ihnen zu verzweifeln. Bravo, bravo! Sie drehen Ihrem Schattenfürsten dort oben eine Nase, Sie kaufen diese Schlittschuhe, Sie lassen sie zu mir schikken oder zu Lukaček, oder zu dem Gewürzkrämer drunten in unserem Häuschen. Sie holen sie von dort, um sich darauf zu üben, und Sie gleiten dahin …«
{715} Ganz so geschah es. Unter den Augen Herrn Settembrinis, der den kritischen Sachkenner spielte, obgleich er von Sport keine Ahnung hatte, erstand Hans Castorp in einem Spezialgeschäft der Hauptstraße ein Paar schmucker Ski, hellbraun lackiert, aus gutem Eschenholz, mit prächtigem Lederzeug und vorne spitz aufgebogen, kaufte auch die Stäbe mit Eisenspitze und Radscheibe dazu und ließ es sich nicht nehmen, alles selbst auf der Schulter davonzutragen bis zu Settembrinis Quartier, wo mit dem Krämer eine Übereinkunft wegen täglicher Unterstellung der Gerätschaften bald getroffen war. Durch vielfache Anschauung über die Art ihres Gebrauches unterrichtet, begann er auf eigene Hand, fern von dem Gewimmel der Übungsplätze, an einem fast baumfreien Abhang nicht weit hinter Sanatorium Berghof, alltäglich darauf herumzustümpern, wobei das eine und andere Mal Herr Settembrini aus einiger Entfernung ihm zuschaute, auf seinen Stock gestützt, die Füße anmutig gekreuzt, Gewandtheitsfortschritte mit Bravorufen begrüßend. Es lief gut ab, als Hans Castorp eines Tages, die geschaufelte Wegschleife gegen »Dorf« hinuntersteuernd, im Begriffe, die Schneeschuhe zum Krämer zurückzubringen, dem Hofrat begegnete. Behrens erkannte ihn nicht, obgleich es heller Mittag war und der Anfänger fast mit ihm zusammengestoßen wäre. Er hüllte sich in eine Wolke Zigarrenrauchs und stapfte vorbei.
Hans Castorp erfuhr, daß man eine Fertigkeit rasch gewinnt, deren man innerlich bedürftig ist. Er erhob keine Ansprüche auf Virtuosentum. Was er brauchte, war ohne Überhitzung und Atemlosigkeit in ein paar Tagen erlernt. Er hielt sich an, die Füße hübsch beieinander zu halten und gleichlaufende Spuren zu schaffen, probte aus, wie man sich bei der Abfahrt des Stokkes zum Lenken bedient, lernte Hindernisse, kleine Bodenerhebungen, die Arme ausgebreitet, im Schwunge nehmen, aufgehoben und abtauchend wie ein Schiff auf stürmischer See, {716} und fiel seit dem zwanzigsten Versuch nicht mehr um, wenn er in voller Fahrt mit Telemarkschwung bremste, das eine Bein vorgeschoben, das andere ins Knie gebeugt. Allmählich erweiterte er den Umkreis seiner Übungen. Eines Tages sah Herr Settembrini ihn im weißlichen Nebel verschwinden, rief ihm
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