Der Zauberberg
seitliche Bewegung, sie wirbelten es von unten nach oben, von der Talsohle in die Lüfte empor, quirlten es in tollem Tanz durcheinander, – das war kein Schneefall mehr, es war ein Chaos von weißer Finsternis, ein Unwesen, die phänomenale Ausschreitung einer über das Gemäßigte hinausgehenden Region, worin nur der Schneefink, der plötzlich in Scharen zum Vorschein kam, sich heimatlich auskennen mochte.
Jedoch liebte Hans Castorp das Leben im Schnee. Er fand es demjenigen am Meeresstrande in mehrfacher Hinsicht verwandt: die Urmonotonie des Naturbildes war beiden Sphären gemeinsam; der Schnee, dieser tiefe, lockere, makellose Pulverschnee, spielte hier ganz die Rolle wie drunten der gelbweiße Sand; gleich reinlich war die Berührung mit beiden, man schüttelte das frosttrockene Weiß von Schuhen und Kleidern {712} wie drunten das staubfreie Stein- und Muschelpulver des Meeresgrundes, ohne daß eine Spur hinterblieb, und auf ganz ähnliche Weise mühselig war das Marschieren im Schnee wie eine Dünenwanderung, es sei denn, daß die Flächen vom Sonnenbrand oberflächlich angeschmolzen, nachts aber hart gefroren waren: dann ging es sich leichter und angenehmer darauf, als auf Parkett, – genau so leicht und angenehm, wie auf dem glatten, festen, gespülten und federnden Sandboden am Saume des Meeres.
Nur waren das Schneefälle und lagernde Massen dies Jahr, die für jedermann, ausgenommen den Skiläufer, die Möglichkeit der Bewegung im Freien kärglich verengten. Die Schneepflüge arbeiteten; aber sie hatten Mühe, die allergebräuchlichsten Pfade und die Hauptstraße des Kurortes notdürftig frei zu halten, und die wenigen Wege, die offen standen und rasch ins Unzugängliche mündeten, waren dicht begangen, von Gesunden und Kranken, von Einheimischen und internationaler Hotelgesellschaft; den Fußgängern aber stolperten die Rodelfahrer an die Beine, Herren und Damen, welche, zurückgelehnt, die Füße voran, unter Warnungsrufen, deren Ton davon zeugte, wie sehr durchdrungen sie von der Wichtigkeit ihres Unternehmens waren, auf ihren Kinderschlittchen schlingernd und kippend die Abhänge hinunterfegten, um, unten angekommen, ihr Modespielzeug am Seile wieder bergan zu ziehen.
Dieser Promenaden war Hans Castorp nun übersatt. Er hegte zwei Wünsche: der stärkste davon war der, mit seinen Gedanken und Regierungsgeschäften allein zu sein, und diesen hätte seine Balkonloge ihm, wenn auch oberflächlich, gewährt. Der andere aber, verbunden mit jenem, galt lebhaft einer inniger-freieren Berührung mit dem schneeverwüsteten Gebirge, für das er Teilnahme gefaßt hatte, und dieser Wunsch war unerfüllbar, solange ein unbewehrter und unbeschwingter Fuß {713} gänger es war, der sich mit ihm trug; denn sofort hätte ein solcher bis über die Brust im Elemente gesteckt, wenn er versucht hätte, über das allerorts rasch erreichte Ende der geschaufelten Verkehrspfade hinaus vorzudringen.
So beschloß Hans Castorp eines Tages, in diesem seinem zweiten Winter hier oben, sich Schneeschuhe zu kaufen und ihren Gebrauch zu erlernen, soweit sein sachliches Bedürfnis es eben erforderte. Er war kein Sportsmann; war, mangels körperlicher Gesinnung, nie einer gewesen; tat auch nicht, als ob er einer sei, wie manche Berghofgäste, die dem Ortsgeist und der Mode zu Gefallen sich geckigerweise so kostümierten, – Frauenzimmer zumal, Hermine Kleefeld zum Beispiel, die, obgleich unzureichende Atmung ihre Nasenspitze und Lippen beständig blau färbte, zum Lunch in wollener Hosentracht zu erscheinen liebte, darin sie sich nach dem Essen mit gespreizten Knien in einem Korbsessel der Halle recht liederlich lümmelte. Hans Castorp wäre, wenn er nach des Hofrats Erlaubnis für sein ausschweifendes Vorhaben gefragt hätte, unbedingt abschlägig beschieden worden. Sportliche Betätigung war der Gemeinschaft Derer hier oben, im Berghof wie allerwärts in ähnlichen Anstalten, unbedingt verwehrt; denn ohnehin stellte die scheinbar so leicht eingehende Atmosphäre strenge Anforderungen an den Herzmuskel, und was Hans Castorp persönlich betraf, so war sein aufgewecktes Wort von der »Gewöhnung daran, daß er sich nicht gewöhnte«, in voller Kraft geblieben, und seine Fieberneigung, die Radamanth von einer feuchten Stelle herleitete, bestand zähe fort. Was hätte er sonst auch hier oben zu suchen gehabt? So war sein Wunsch und Vorhaben widerspruchsvoll und unstatthaft. Nur mußte man ihn auch recht verstehen. Ihn stach nicht
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