Der Zauberberg
dunkel am Morgen; man frühstückte beim künstlichen Schein der Lüstermonde im Saal mit den lustig schablonierten Gewölbegurten. Draußen war das trübe Nichts, die Welt in grauweiße Watte, die gegen die Scheiben drängte, in Schneequalm und Nebeldunst dicht verpackt. Unsichtbar das Gebirge; vom nächsten Nadelholz allenfalls mit der Zeit ein wenig zu sehen: beladen stand es, verlor sich rasch im Gebräu, und dann und wann entlud eine Fichte sich ihrer Überlast, schüttelte stäubendes Weiß ins Grau. Um zehn Uhr kam die Sonne als schwach erleuchteter Rauch über ihren Berg, ein matt gespenstisches Leben, einen fahlen Schein von Sinnlichkeit in die nichtig-unkenntliche Landschaft zu bringen. Doch blieb alles gelöst in geisterhafter Zartheit und Blässe, bar jeder Linie, die das Auge mit Sicherheit hätte nachziehen können. Gipfelkonturen verschwammen, vernebelten, verrauchten. Bleich beschienene Schneeflächen, die hinter- und übereinander aufstiegen, leiteten den Blick ins Wesenlose. Dann schwebte wohl eine erleuchtete Wolke, rauchartig, lange, ohne ihre Form zu verändern, vor einer Felswand.
Um Mittag zeigte die Sonne, halb durchbrechend, das Bestreben, den Nebel in Bläue zu lösen. Ihr Versuch blieb fern vom Gelingen; doch eine Ahnung von Himmelsblau war augenblicksweise zu erfassen, und das wenige Licht reichte hin, die durch das Schneeabenteuer wunderlich entstellte Gegend {710} weithin diamanten aufglitzern zu lassen. Gewöhnlich hörte es auf zu schneien um diese Stunde, gleichsam um einen Überblick über das Erreichte zu gewähren, ja, diesem Zweck schienen auch die wenigen eingestreuten Sonnentage zu dienen, an denen das Gestöber ruhte und der unvermittelte Himmelsbrand die köstlich reine Oberfläche der Massen von Neuschnee anzuschmelzen suchte. Das Bild der Welt war märchenhaft, kindlich und komisch. Die dicken, lockeren, wie aufgeschüttelten Kissen auf den Zweigen der Bäume, die Buckel des Bodens, unter denen sich kriechendes Holz oder Felsvorsprünge verbargen, das Hockende, Versunkene, possierlich Vermummte der Landschaft, das ergab eine Gnomenwelt, lächerlich anzusehn und wie aus dem Märchenbuch. Mutete aber die nahe Szene, in der man sich mühselig bewegte, phantastisch-schalkhaft an, so waren es Empfindungen der Erhabenheit und des Heiligen, die der hereinschauende fernere Hintergrund, die getürmten Standbilder der verschneiten Alpen erweckten.
Nachmittags zwischen zwei und vier Uhr lag Hans Castorp in der Balkonloge und blickte wohlverpackt, den Kopf gestützt von der weder zu steil noch zu flach eingestellten Lehne seines vorzüglichen Liegestuhls, über die bepolsterte Brüstung hin auf Wald und Gebirge. Der grünschwarze, mit Schnee beschwerte Tannenforst stieg die Lehnen hinan, und zwischen den Bäumen war aller Boden kissenweich von Schnee. Darüber erhob sich das Felsgebirg ins Grauweiß, mit ungeheueren Schneeflächen, die von einzelnen, dunkler hervorragenden Felsnasen unterbrochen waren, und zart verdunstenden Kammlinien. Es schneite still. Alles verschwamm mehr und mehr. Der Blick, in ein wattiges Nichts gehend, brach sich leicht zum Schlummer. Ein Frösteln begleitete den Augenblick des Hinüberganges, doch gab es dann kein reineres Schlafen als dieses hier in der Eiseskälte, dessen Traumlosigkeit von keinem unbewußten Gefühl organischer Lebenslast berührt wurde, da {711} das Atmen der leeren, nichtig-dunstlosen Luft dem Organismus nicht schwerer fiel als das Nichtatmen den Toten. Beim Erwachen war das Gebirge völlig im Schneenebel verschwunden, und nur Stücke davon, eine Gipfelkuppe, eine Felsnase, traten wechselnd für einige Minuten hervor, um wieder verhüllt zu werden. Dies leise Geisterspiel war äußerst unterhaltend. Man mußte scharf achtgeben, um die Schleier-Phantasmagorie in ihren heimlichen Wandlungen zu belauschen. Wild und groß zeigte sich, frei im Dunste, eine Felsgebirgspartie, von der weder Gipfel noch Fuß zu sehen war. Aber da man sie nur eine Minute aus den Augen gelassen, war sie entschwunden.
Dann gab es Schneestürme, die den Aufenthalt in der Balkonlaube überhaupt verhinderten, da das stöbernde Weiß massenweise hereintrieb und alles, Boden und Möbel, dickauf bedeckte. Ja, es konnte auch stürmen in dem gefriedeten Hochtal. Die nichtige Atmosphäre geriet in Aufruhr, sie war so ausgefüllt von Flockengewimmel, daß man nicht einen Schritt weit sah. Böen von erstickender Stärke versetzten das Gestöber in wilde, treibende,
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