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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Straße an, während den scharfen, kleinen Naphta harte Gelübde banden. Und doch war dieser beinahe ein Wüstling vor lauter Freigeisterei und jener dagegen ein Tugendnarr, wenn man wollte. Vor dem »absoluten Geist« hatte Herr Settembrini Angst und wollte den Geist partout auf den demokratischen Fortschritt festlegen, – entsetzt über des militärischen Naphta religiöse Libertinage, die Gott und Teufel, Heiligkeit und Missetat, Genie und Krankheit zusammenwarf und keine Wertsetzung, kein Vernunfturteil, keinen Willen kannte. Wer war denn nun eigentlich frei, wer fromm, was machte den wahren Stand und Staat des Menschen aus: der Untergang in der alles verschlingenden und ausgleichenden {705} Gemeinschaft, der zugleich wüstlingshaft und asketisch war, oder das »kritische Subjekt«, bei welchem Windbeutelei und bürgerliche Tugendstrenge einander ins Gehege kamen? Ach, die Prinzipien und Aspekten kamen einander beständig ins Gehege, an innerem Widerspruch war kein Mangel, und so außerordentlich schwer war es zivilistischer Verantwortlichkeit gemacht, nicht allein, sich zwischen den Gegensätzen zu entscheiden, sondern auch nur, sie als Präparate gesondert und sauber zu halten, daß die Versuchung groß war, sich kopfüber in Naphtas »sittlich ungeordnetes All« zu stürzen. Es war die allgemeine Überkreuzung und Verschränkung, die große Konfusion, und Hans Castorp meinte zu sehen, daß die Streitenden weniger erbittert gewesen wären, wenn sie ihnen selbst nicht beim Streite die Seele bedrückt hätte.
    Man war miteinander bis zum »Berghof« hinaufgegangen; dann hatten die drei, die dort wohnten, die Auswärtigen bis vor ihr Häuschen zurückbegleitet, und dort stand man noch lange im Schnee, indes Naphta und Settembrini sich stritten, – pädagogischerweise, wie Hans Castorp wohl wußte, und um die Bildsamkeit lichtsuchender Jugend zu bearbeiten. Für Herrn Ferge waren das alles viel zu hohe Dinge, wie er wiederholt zu verstehen gab, und Wehsal zeigte sich wenig beteiligt, seitdem nicht mehr von Prügeln und Folter die Rede war. Hans Castorp grub gesenkten Hauptes mit dem Stocke im Schnee und bedachte die große Konfusion.
    Schließlich trennte man sich. Man konnte nicht ewig stehen, und das Kolloquium war uferlos. Die drei Berghofgäste wandten sich wieder ihrer Heimstätte zu, und die beiden pädagogischen Wetteiferer mußten zusammen ins Häuschen gehen, der eine, um seine seidene Zelle, der andere, um sein Humanistenstübchen mit Stehpult und Wasserflasche zu gewinnen. Hans Castorp aber begab sich in seine Balkonloge, die Ohren voll vom Wirrwarr und Waffenlärm der beiden Heere, die von {706} Jerusalem und Babylon vorrückend unter den dos banderas zu konfusem Schlachtgetümmel zusammentrafen.

Schnee
    Fünfmal täglich kam an den sieben Tischen einhellige Unzufriedenheit zum Ausdruck mit dem Witterungscharakter des diesjährigen Winters. Man urteilte, daß er seine Verpflichtungen als Hochgebirgswinter sehr mangelhaft erfülle, daß er die meteorologischen Kurmittel, denen die Sphäre ihren Ruf verdankte, durchaus nicht in dem Umfange bereitstelle, wie der Prospekt es verhieß, wie Langjährige es gewohnt waren und Neulinge es sich ausgemalt hatten. Gewaltige Ausfälle an Sonne waren zu verzeichnen, an Sonnenstrahlung, diesem wichtigen Heilfaktor, ohne dessen Mithilfe die Genesung sich zweifellos verzögerte … Und wie nun Herr Settembrini auch über die Aufrichtigkeit denken mochte, mit der die Berggäste ihre Genesung und ihre Rückkehr aus der »Heimat« ins Flachland betrieben: jedenfalls verlangten sie ihr Recht, jedenfalls wollten sie auf ihre Kosten kommen, auf diejenigen, die ihre Eltern, ihre Gatten für sie bestritten, und so murrten sie in ihren Gesprächen bei Tisch, im Lift und in der Halle. Auch zeigte die Oberleitung ein volles Einsehen in ihre Verpflichtung zu Aushilfe und Schadenersatz. Ein neuer Apparat für »künstliche Höhensonne« wurde angeschafft, da die beiden schon vorhandenen der Nachfrage derer nicht genügten, die sich auf elektrischem Wege braun brennen lassen wollten, was die jungen Mädchen und Frauen gut kleidete und der Männerwelt trotz horizontaler Lebensweise ein prächtig sportliches und erobererhaftes Ansehen verlieh. Ja, dies Ansehen trug Früchte im Wirklichen; die Frauen, obwohl völlig im klaren über die technisch-kosmetische Herkunft dieser Männlichkeit, waren dumm oder ausgepicht genug, auf Sinnentrug hinlänglich ver {707} sessen, um sich von

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