Der Zauberberg
die Gegensätze. Der Mensch ist Herr der Gegensätze, sie sind durch ihn, und also ist er vornehmer als sie. Vornehmer als der Tod, zu vornehm für diesen, – das ist die Freiheit seines Kopfes. Vornehmer als das Leben, zu vornehm für dieses, – das ist die Frömmigkeit in seinem Herzen. Da habe ich einen Reim gemacht, ein Traumgedicht vom Menschen. Ich will dran denken. Ich will gut sein. Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! Denn darin besteht die Güte und Menschenliebe, und in nichts anderem. Der Tod ist eine große Macht. Man nimmt den Hut ab und wiegt sich vorwärts auf Zehenspitzen in seiner Nähe. Er trägt die Würdenkrause des Gewesenen, und selber kleidet man sich streng und schwarz zu seinen Ehren. Vernunft steht albern vor ihm da, denn sie ist nichts als Tugend, er aber Freiheit, Durchgängerei, Unform und Lust. Lust, sagt mein Traum, nicht Liebe. Tod und Liebe, – das ist ein schlechter Reim, ein abgeschmackter, ein falscher Reim! Die Liebe steht dem Tode entgegen, nur sie, nicht die Vernunft, ist stärker als er. Nur sie, nicht die Vernunft, gibt gütige Gedanken. Auch Form ist nur aus Liebe und Güte: Form und Gesittung verständig-freundlicher Gemeinschaft und schönen Menschenstaats – in stillem Hinblick auf das Blutmahl. Oh, so ist es deutlich geträumt und gut regiert! Ich will dran denken. Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, daß Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren.
Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.
Und damit wach ich auf … Denn damit hab ich zu Ende geträumt und recht zum Ziele. Schon längst hab ich nach diesem Wort gesucht: am Orte, wo Hippe mir erschien, in meiner Loge und überall. Ins Schneegebirge hat mich das Suchen danach auch getrieben. Nun habe ich es. Mein Traum hat es mir {749} deutlichst eingegeben, daß ich’s für immer weiß. Ja, ich bin hoch entzückt und ganz erwärmt davon. Mein Herz schlägt stark und weiß warum. Es schlägt nicht bloß aus körperlichen Gründen, nicht so, wie einer Leiche noch die Nägel wachsen; menschlicherweise schlägt es und recht von glücklichen Gemütes wegen. Das ist ein Trank, mein Traumwort, – besser als Portwein und Ale, es strömt mir durch die Adern wie Lieb’ und Leben, daß ich mich aus meinem Schlaf und Traume reiße, von denen ich natürlich sehr wohl weiß, daß sie meinem jungen Leben im höchsten Grade gefährlich sind … Auf, auf! Die Augen auf! Es sind deine Glieder, die Beine da im Schnee! Zusammenziehn und auf! Sieh da, – gut Wetter!«
Sie hielt gewaltig schwer, die Befreiung aus den Banden, die ihn umstrickten und niederhalten wollten; allein der Antrieb, den er sich zu schaffen gewußt, war stärker. Hans Castorp warf sich auf den Ellenbogen, zog mannhaft die Knie an, riß, stützte und turnte sich empor. Er stampfte mit den Brettern den Schnee, schlug sich die Arme um die Rippen und schüttelte die Schultern, indem er erregte und angestrengte Blicke dahin und dorthin und hinauf zum Himmel sandte, wo blasses Blau sich zwischen schleierdünnen, graublauen Wolken zeigte, die sachte zogen und die schmale Sichel des Mondes enthüllten. Leichte Dämmerung. Kein Sturm, kein Schneefall. Die Bergwand drüben mit dem tannenrauhen Rücken war voll und klar zu sehen, lag in Frieden. Schatten reichte bis halb hinauf; die obere Hälfte war aufs zarteste rosa belichtet. Was gab es denn, und wie verhielt es sich mit der Welt? War Morgen? Und hatte er die Nacht hindurch im Schnee gelegen, ohne zu erfrieren, wie es im Buche stand? Kein Glied war abgestorben, keines zerbrach ihm klirrend, während er stampfte, sich schüttelte und schlug, worin er nicht säumig war, indem er zu gleicher Zeit die Sachlage gedanklich zu ergründen suchte. Ohren, Fingerspitzen und Zehen waren wohl taub, allein nicht mehr, als schon so oft beim {750} nächtlich-winterlichen Liegen in der Loge. Es gelang, die Uhr hervorzugraben. Sie ging. Sie war nicht stehen geblieben, wie sie zu tun pflegte, wenn er sie abends aufzuziehen vergaß. Sie zeigte noch nicht Fünf – bei weitem nicht. Es fehlten zwölf, dreizehn Minuten daran. Erstaunlich! Konnte es denn sein, daß er nur zehn Minuten oder etwas länger hier im Schnee gelegen und so vieles an Glücks- und Schreckensbildern und waghalsigen Gedanken sich vorgefabelt
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