Der Zauberberg
Wind, von diesem großen, weiten und milden Winde, der frei und ungehemmt und ohne Tücke den Raum durchfährt und eine sanfte Betäubung in unserem Kopfe erzeugt, – wir wandern, wandern und sehen die Schaumzungen der vorgetriebenen und wieder rückwärts wallenden See nach unseren Füßen lecken. Die Brandung siedet, hell-dumpf aufprallend rauscht Welle auf Welle seidig auf den flachen Strand, – so dort wie hier und an den Bänken draußen, und dieses wirre und allgemeine, sanft brausende Getöse sperrt unser Ohr für jede Stimme der Welt. Tiefes Genügen, wissentlich Vergessen … Schließen wir doch die Augen, geborgen von Ewigkeit! Nein, sieh, dort in der schaumig graugrünen Weite, die sich in ungeheueren Verkürzungen zum Horizont verliert, dort steht ein Segel. Dort? Was ist das für ein Dort? Wie weit? Wie nah? Das weißt du nicht. Auf schwindelige Weise entzieht es sich deinem Urteil. Um zu sagen, wie weit dies Schiff vom Ufer entfernt ist, müßtest du wissen, wie groß es an sich selber als Körper ist. Klein und nahe oder groß und fern? In Unwissenheit bricht sich dein Blick, denn aus dir selber sagt kein Organ und Sinn dir über den Raum Bescheid … Wir gehen, gehen, – wie lange schon? Wie weit? Das steht dahin. Nichts ändert sich bei unserem Schritt, dort ist wie hier, vorhin wie jetzt und dann; in ungemessener Monotonie des Raumes ertrinkt die Zeit, Bewegung von Punkt zu Punkt ist keine Bewegung mehr, wenn Einerleiheit regiert, und wo Bewegung nicht mehr Bewegung ist, ist keine Zeit.
Die Lehrer des Mittelalters wollten wissen, die Zeit sei eine Illusion, ihr Ablauf in Ursächlichkeit und Folge nur das Ergebnis einer Vorrichtung unsrer Sinne und das wahre Sein der Dinge ein stehendes Jetzt. War er am Meere spaziert, der Doktor, der diesen Gedanken zuerst empfing, – die schwache Bit {826} ternis der Ewigkeit auf seinen Lippen? Wir wiederholen jedenfalls, daß es Ferienlizenzen sind, von denen wir da sprechen, Phantasien der Lebensmuße, von denen der sittliche Geist so rasch gesättigt ist, wie ein rüstiger Mann vom Ruhen im warmen Sand. An den menschlichen Erkenntnismitteln und –formen Kritik zu üben, ihre reine Gültigkeit fraglich zu machen, wäre absurd, ehrlos, widersacherisch, wenn je ein anderer Sinn damit verbunden wäre, als derjenige, der Vernunft Grenzen anzuweisen, die sie nicht überschreitet, ohne sich der Vernachlässigung ihrer eigentlichen Aufgaben schuldig zu machen. Wir können einem Manne wie Herrn Settembrini nur dankbar sein, wenn er dem jungen Menschen, dessen Schicksal uns beschäftigt, und den er bei Gelegenheit sehr fein als ein »Sorgenkind des Lebens« angesprochen hatte, die Metaphysik mit pädagogischer Entschiedenheit als »Das Böse« kennzeichnete. Und wir ehren das Andenken eines uns lieben Verstorbenen am besten, indem wir aussprechen, daß Sinn, Zweck und Ziel des kritischen Prinzips nur eines sein kann und darf: der Pflichtgedanke, der Lebensbefehl. Ja, indem gesetzgeberische Weisheit die Grenzen der Vernunft kritisch absteckte, hat sie an ebendiesen Grenzen die Fahne des Lebens aufgepflanzt und es als die soldatische Schuldigkeit des Menschen proklamiert, unter ihr Dienst zu tun. Soll man es dem jungen Hans Castorp aufs Entschuldigungskonto setzen und annehmen, es habe ihn in seiner lästerlichen Zeitwirtschaft, seinem schlimmen Getändel mit der Ewigkeit bestärkt, daß, was ein melancholischer Schwadroneur seines militärischen Vetters »Biereifer« genannt, letalen Ausgang genommen hatte?
Mynheer Peeperkorn
Mynheer Peeperkorn, ein älterer Holländer, war eine Zeitlang Gast des Hauses »Berghof«, das mit so großem Recht das Bei {827} wort »international« in seinem Schilde führte. Peeperkorns leicht farbige Nationalität – denn er war ein Kolonial-Holländer, ein Mann von Java, ein Kaffeepflanzer – würde uns kaum vermögen, seine, Pieter Peeperkorns (so hieß er, so bezeichnete er sich selbst; »jetzt labt Pieter Peeperkorn sich mit einem Schnaps«, pflegte er zu sagen) – würde uns, sagen wir, noch nicht bestimmen, seine Person zu elfter Stunde in unsere Geschichte einzuführen; denn du großer Gott, in was für Tinten und Abschattungen spielte nicht die Gesellschaft des bewährten Instituts, das Hofrat Doktor Behrens in vielzüngiger Redensartlichkeit ärztlich leitete! Nicht genug, daß neuerdings hier sogar eine ägyptische Prinzessin anwesend war, dieselbe, die dem Hofrat einst das bemerkenswerte Kaffeegeschirr und die
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