Der Zauberberg
Sekundenzeiger den geschäftig pickenden Gang um seine besondere kleine Sphäre tat. Hans Castorp hielt ihn im Auge, um einige Minuten zu hemmen und zu dehnen, die Zeit am Schwanze zu halten. Das Weiserchen trippelte seines Weges, ohne der Ziffern zu achten, die es erreichte, berührte, überschritt, zurückließ, weit zurückließ, wieder anging und wieder erreichte. Es war fühllos gegen {823} Ziele, Abschnitte, Markierungen. Es hätte auf 60 einen Augenblick anhalten oder wenigstens sonst ein winziges Zeichen geben sollen, daß hier etwas vollendet sei. Doch an der Art, wie es sie rasch, nicht anders als jedes andere unbezifferte Strichelchen, überschritt, erkannte man, daß ihm die ganze Bezifferung und Gliederung seines Weges nur
unterlegt
war, und daß es eben nur ging, ging … So barg denn Hans Castorp sein Glashüttenerzeugnis wieder in der Westentasche und überließ die Zeit sich selbst.
Wie sollen wir flachländischer Ehrbarkeit die Veränderungen faßlich machen, die in dem inneren Haushalt des jungen Abenteurers sich vollzogen? Es wuchs der Maßstab der schwindligen Identitäten. War es bei einiger Nachgiebigkeit nicht leicht, ein Jetzt gegen eines von gestern, von vor- und vorvorgestern abzusetzen, das ihm geglichen hatte wie ein Ei dem andern, so war ein Jetzt auch schon geneigt und fähig, seine Gegenwart mit einer solchen zu verwechseln, die vor einem Monat, einem Jahre obgewaltet hatte, und mit ihr zum Immer zu verschwimmen. Sofern jedoch die sittlichen Bewußtseinsfälle des Noch und Wieder und Künftig gesondert blieben, schlich eine Versuchung sich ein, Beziehungsnamen, mit denen das »Heute« sich Vergangenheit und Zukunft bestimmend vom Leibe hält, das »Gestern«, das »Morgen«, nach ihrem Sinne zu erweitern und sie auf größere Verhältnisse anzuwenden. Unschwer wären Wesen denkbar, vielleicht auf kleineren Planeten, die eine Miniaturzeit bewirtschafteten und für deren »kurzes« Leben das flinke Getrippel unseres Sekundenzeigers die zähe Wegsparsamkeit des Stundenmessers hätte. Aber auch solche sind vorzustellen, mit deren Raum sich eine Zeit von gewaltigem Gange verbände, so daß die Abstandsbegriffe des »Eben noch« und »Über ein Kleines«, des »Gestern« und »Morgen« in ihrem Erlebnis ungeheuer erweiterte Bedeutung gewännen. Das wäre, sagen wir, nicht nur möglich, es wäre, im {824} Geiste eines duldsamen Relativismus beurteilt und nach dem Satze »Ländlich, sittlich«, auch als legitim, gesund und achtbar anzusprechen. Was aber soll man von einem Erdensohne denken, des Alters obendrein, für den ein Tag, ein Wochenrund, ein Monat, ein Semester noch solche wichtige Rolle spielen sollten, im Leben so viele Veränderungen und Fortschritte mit sich bringen, – der eines Tages die lästerliche Gewohnheit annimmt oder doch zuweilen der Lust nachgibt, statt »Vor einem Jahre«: »Gestern« und »Morgen« für »Übers Jahr« zu sagen? Hier ist unzweifelhaft das Urteil »Verirrung und Verwirrung« und damit höchste Besorgnis am Platze.
Es gibt auf Erden eine Lebenslage, gibt landschaftliche Umstände (wenn man von »Landschaft« sprechen darf in dem uns vorschwebenden Falle), unter denen eine solche Verwirrung und Verwischung der zeitlich-räumlichen Distanzen bis zur schwindeligen Einerleiheit gewissermaßen von Natur und Rechtes wegen statthat, so daß denn ein Untertauchen in ihrem Zauber für Ferienstunden allenfalls als statthaft gelten möge. Wir meinen den Spaziergang am Meeresstrande, – ein Sichbefinden, dessen Hans Castorp nie ohne größte Zuneigung gedachte, – wie wir ja wissen, daß er sich durch das Leben im Schnee an heimatliche Dünengefilde gern und dankbar erinnern ließ. Wir vertrauen, daß auch Erfahrung und Erinnerung des Lesers uns nicht im Stiche lassen werde, wenn wir auf diese wundersame Verlorenheit Bezug nehmen. Du gehst und gehst … du wirst von solchem Gange niemals zu rechter Zeit nach Hause zurückkehren, denn du bist der Zeit und sie ist dir abhanden gekommen. O Meer, wir sitzen erzählend fern von dir, wir wenden dir unsere Gedanken, unsre Liebe zu, ausdrücklich und laut anrufungsweise sollst du in unserer Erzählung gegenwärtig sein, wie du es im stillen immer warst und bist und sein wirst … Sausende Öde, blaß hellgrau überspannt, voll herber Feuchte, von der ein Salzgeschmack auf unseren {825} Lippen haftet. Wir gehen, gehen auf leicht federndem, mit Tang und kleinen Muscheln bestreutem Grunde, die Ohren eingehüllt vom
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