Der Zauberberg
ohne jeden Zweifel! Man gibt der klassischen Lebensgabe das Ihre, indem man sich freimütig schwanken läßt zu ihren Ehren. Dagegen im Ernst … Ich habe doch auch mein Teil, aber trotz aller sogenannten Betrunkenheit bin ich mir klar bewußt, daß ich die besondere Ehre habe, eine ausgesprochene Persönlichkeit zu Bett zu bringen, so wenig vermag der Rausch sogar über mich, der ich doch in Hinsicht auf Format überhaupt gar nicht erst in Vergleich komme –«
{867} »Na, du, Schwätzerchen«, sagte Peeperkorn und stieß ihn wankend gegen das Treppengeländer, indem er Frau Chauchat mit sich zog.
Ersichtlich war das Gerücht vom Nahen des Hofrats ein leerer Schreckschuß gewesen. Vielleicht hatte die müde Zwergin ihn abgegeben, um die Geselligkeit zu sprengen. Unter diesen Umständen blieb Peeperkorn stehen und wollte umkehren, um weiter zu trinken; aber von beiden Seiten wurde ihm in besserem Sinne zugeredet, und so ließ er sich wieder in Bewegung setzen.
Der malaiische Kammerdiener, dies Männchen in weißer Krawatte und mit schwarzseidenen Schuhen an den Füßen, erwartete seinen Gebieter auf dem Korridor, vor der Tür des Appartements, und nahm ihn mit einer Verneigung in Empfang, zu der er eine Hand auf die Brust legte.
»Küßt euch!« gebot Peeperkorn. »Küsse diese reizende Frau zum Schluß auf die Stirn, junger Mann!« sagte er zu Hans Castorp. »Sie wird nichts dagegen haben und es erwidern. Tut es auf mein Wohl und mit meiner Erlaubnis!« sagte er; aber Hans Castorp weigerte sich dessen.
»Nein, Eure Majestät!« sagte er. »Entschuldigen Sie, das geht nicht.«
Peeperkorn, an den Kammerdiener gelehnt, zog seine Arabesken hoch und verlangte zu wissen, warum das nicht gehe.
»Weil ich mit Ihrer Reisebegleiterin keine Stirnküsse tauschen kann«, sagte Hans Castorp. »Ich wünsche recht wohl zu ruhen! Nein, das wäre, von allen Seiten gesehen, der reine Unsinn.«
Und da auch Frau Chauchat schon auf ihre Zimmertür zuging, so ließ Peeperkorn den Widerspenstigen ziehen, indem er ihm freilich noch eine Weile über die eigene Schulter und die des Malaien mit angezogenem Faltenwerk nachblickte, erstaunt über eine Unbotmäßigkeit, auf die seine Herrschernatur nicht zu stoßen gewohnt sein mochte.
{868} Mynheer Peeperkorn (Des Weiteren)
Mynheer Peeperkorn blieb in Haus Berghof während dieses ganzen Winters – soviel davon noch übrig war – und bis ins Frühjahr hinein, so daß es zuletzt noch zu einem recht denkwürdigen gemeinsamen Ausflug (auch Settembrini und Naphta waren dabei) ins Flüelatal und zum dortigen Wasserfall kam … Zuletzt noch? Und danach blieb er also nicht länger? – Nein, länger nicht. – Er reiste ab? – Ja und nein. – Ja und nein? Bitte, keine Geheimniskrämerei! Man wird sich zu fassen wissen. Auch Leutnant Ziemßen ist gestorben, von so vielen minder ehrenhaften Tänzern des Todes ganz abgesehen. Der undeutliche Peeperkorn wurde also vom malignen Tropenfieber dahingerafft? – Nein, das wurde er nicht, aber wozu die Ungeduld? Daß nicht alles auf einmal da ist, bleibt als Bedingung des Lebens und der Erzählung zu achten, und man wird sich doch wohl gegen die gottgegebenen Formen menschlicher Erkenntnis nicht auflehnen wollen! Geben wir der Zeit wenigstens soviel Ehre, wie das Wesen unserer Geschichte uns noch erlaubt! Viel ist es ohnehin nicht mehr damit, es geht nachgerade holterdiepolter! oder, wenn das zu lärmend gesagt ist, es geht husch, husch! Ein Weiserchen mißt unsere Zeit, das trippelt, als ob es Sekunden mäße, während es jedesmal, Gott weiß, was, zu bedeuten hat, wenn es kaltblütig und ohne Aufenthalt durch seinen Höhepunkt geht. Schon Jahre, soviel ist sicher, sind wir hier oben, uns schwindelt, das ist ein Lastertraum ohne Opium und Haschisch, der Sittenrichter wird uns verurteilen, – und doch stellen wir der schlimmen Umnebelung absichtlich viel Verstandeshelligkeit und logische Schärfe entgegen! Nicht zufällig, das möge anerkannt werden, haben wir uns Köpfe wie die Herren Naphta und Settembrini zum Umgang erwählt, statt uns etwa gar mit lauter undeutlichen Peeperkorns zu umgeben, – und das führt nun freilich zu einem Vergleich, der {869} in mancher Hinsicht und namentlich im Punkte des
Formats
zugunsten dieser späten Erscheinung ausschlagen muß, wie er es denn auch in Hans Castorps Gedanken tat, wenn er in seiner Loge lag und sich gestand, daß die beiden überartikulierten Erzieher, die seine arme Seele in die Mitte
Weitere Kostenlose Bücher