Der Zauberberg
der bewunderungsvollsten oder wütendsten Leidenschaft. Schwankender Sinn? Aber man lasse in Gottes Namen den Sinn der Liebe doch schwanken! Daß er schwankt, ist Leben und Menschlichkeit, und es würde einen durchaus trostlosen Mangel an Verschlagenheit bedeuten, sich um sein Schwanken Sorge zu machen.
Während also die Lippen Hans Castorps und Frau Chauchats sich im russischen Kusse finden, verdunkeln wir unser kleines Theater zum Szenenwechsel. Denn nun handelt es sich um die zweite der beiden Unterredungen, deren Mitteilung wir zusicherten, und nach Wiederherstellung der Beleuchtung, der trüben Beleuchtung eines zur Neige gehenden Frühlingstages, zur Zeit der Schneeschmelze, erblicken wir unseren Helden in schon gewohnter Lebenslage am Bette des großen Peeperkorn, in ehrerbietig-freundschaftlichem Gespräch mit ihm. Nach dem 4-Uhr-Tee im Speisesaal, zu dem Frau Chauchat, wie schon zu den drei vorhergehenden Mahlzeiten, allein erschienen war, um unmittelbar danach einen shopping-Gang nach »Platz« hinunter anzutreten, hatte Hans Castorp sich zu einer seiner üblichen Krankenvisiten bei dem Holländer melden lassen, teils, um ihm Aufmerksamkeit zu bezeigen und ihn ein wenig zu unterhalten, teils, um sich seinerseits an seiner Persönlichkeitswirkung zu erbauen, – kurzum, aus lebensvoll schwankenden Motiven. Peeperkorn legte den »Telegraaf« beiseite, warf den Hornzwicker darauf, nachdem er ihn sich am Bügel von der Nase gehoben, und reichte dem Besucher die Kapitänshand, während seine breiten, zerrissenen Lippen sich mit wundem Ausdruck undeutlich regten. Rotwein und Kaffee waren ihm wie gewöhnlich zur Hand: das Kaffeegeschirr stand auf dem Stuhle am Bett, braun benetzt vom Gebrauch, – Mynheer hatte seinen Nachmittagstrank genommen, stark und heiß, mit Zucker und Rahm, wie gewöhnlich, und er schwitzte {909} davon. Sein weiß umflammtes Königsgesicht war gerötet, und kleine Tropfen standen ihm auf Stirn und Oberlippe.
»Ich schwitze etwas«, sagte er. »Willkommen, junger Mann. Im Gegenteil. Nehmen Sie Platz! Das ist ein Zeichen von Schwäche, wenn einem nach Einnahme eines warmen Getränkes sogleich – Wollen Sie mir – Ganz recht. Das Taschentuch. Ich danke sehr.« Übrigens verlor sich die Röte bald und machte der gelblichen Blässe Platz, die nach einem malignen Anfall des großartigen Mannes Gesicht zu bedecken pflegte. Das Quartanfieber war stark gewesen diesen Vormittag, in allen drei Stadien, dem kalten, dem glühenden und dem feuchten, und Peeperkorns kleine, blasse Augen blickten matt unter der idolhaften Stirnlineatur. Er sagte:
»Es ist – durchaus, junger Mann. Ich möchte durchaus das Wort ›anerkennenswert‹ – Absolut. Es ist sehr freundlich von Ihnen, einen kranken alten Mann –«
»Zu besuchen?« fragte Hans Castorp … »Nicht doch, Mynheer Peeperkorn. Ich bin es, der sehr dankbar zu sein hat, daß ich ein bißchen hier sitzen darf, ich habe ja unvergleichlich viel mehr davon, als Sie, ich komme aus rein egoistischen Gründen. Und was ist denn das für eine irreführende Bezeichnung für Ihre Person, – ›ein kranker alter Mann‹. Kein Mensch würde darauf kommen, daß
Sie
das sein sollen. Es gibt ja ein völlig falsches Bild.«
»Gut, gut«, erwiderte Mynheer und schloß für einige Sekunden die Augen, das majestätische Haupt mit erhobenem Kinn ins Kissen zurückgelehnt, die langgenagelten Finger auf der breiten Königsbrust gefaltet, die sich unter dem Trikothemd abzeichnete. »Es ist gut, junger Mann, oder vielmehr, Sie meinen es gut, ich bin überzeugt davon. Es war angenehm gestern nachmittag – jawohl, noch gestern nachmittag – an jenem gastlichen Ort – ich habe seinen Namen vergessen –, wo wir die vortreffliche Salamiwurst mit Rühreiern und diesen gesunden Landwein –«
{910} »Großartig war es!« bestätigte Hans Castorp. »Wir haben es uns alle ganz unerlaubt schmecken lassen, – der Küchenchef hier vom Berghof wäre mit Recht beleidigt gewesen, wenn er’s gesehen hätte, – kurzum, wir waren ohne Ausnahme intensiv bei der Sache! Das war Salami von echtem Schrot und Korn, Herr Settembrini war ganz gerührt davon, er aß sie sozusagen mit feuchten Augen. Er ist ja ein Patriot, wie Sie wissen werden, ein demokratischer Patriot. Er hat seine Bürgerpike am Altar der Menschheit geweiht, damit die Salami in Zukunft an der Brennergrenze verzollt werde.«
»Das ist unwesentlich«, erklärte Peeperkorn. »Er ist ein ritterlicher
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