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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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berauscht seine Begierde, das Weib verlangt und gewärtigt, von seiner Begierde berauscht zu werden. Daher unsere Verpflichtung zum Gefühl. Daher die entsetzliche Schande der Gefühllosigkeit, der Ohnmacht, das Weib zur Begierde zu wecken. Trinken Sie ein Glas Rotwein mit mir? Ich trinke. Mich dürstet. Die Feuchtigkeitsabgabe dieses Tages war erheblich.«
    »Ich danke recht sehr, Mynheer Peeperkorn. Es ist zwar nicht meine Stunde, aber einen Schluck auf Ihr Wohl zu trinken bin ich immer bereit.«
    »So nehmen Sie das Weinglas. Es ist nur eins zur Stelle. Ich greife aushilfsweise zum Wasserbecher. Ich denke, man tritt diesem kleinen Sauser nicht zu nahe, indem man ihn aus schlichtem Gefäße –« Er schenkte ein, unter Beihilfe seines Gastes, mit leicht zitternder Kapitänshand, und goß durstig {913} den Rotwein aus dem fußlosen Glase durch seine Büstengurgel, genau, als ob es klares Wasser wäre.
    »Das labt«, sagte er. »Sie trinken nicht mehr? Dann erlauben Sie, daß ich mir noch einmal –« Er verschüttete etwas Wein beim abermaligen Einschenken. Das Einschlaglaken seiner Decke war dunkelrot befleckt. »Ich wiederhole«, sagte er mit erhobener Fingerlanze, während in seiner anderen Hand das Weinglas zitterte, »ich wiederhole: daher unsere Verpflichtung, unsere
religiöse
Verpflichtung zum Gefühl. Unser Gefühl, verstehen Sie, ist die Manneskraft, die das Leben weckt. Das Leben schlummert. Es will geweckt sein zur trunkenen Hochzeit mit dem göttlichen Gefühl. Denn das Gefühl, junger Mann, ist göttlich. Der Mensch ist göttlich, sofern er fühlt. Er ist das Gefühl Gottes. Gott schuf ihn, um durch ihn zu fühlen. Der Mensch ist nichts als das Organ, durch das Gott seine Hochzeit mit dem erweckten und berauschten Leben vollzieht. Versagt er im Gefühl, so bricht Gottesschande herein, es ist die Niederlage von Gottes Manneskraft, eine kosmische Katastrophe, ein unausdenkbares Entsetzen –« Er trank.
    »Erlauben Sie, daß ich Ihnen das Glas abnehme, Mynheer Peeperkorn«, sagte Hans Castorp. »Ich folge Ihrem Gedankengang zu meiner größten Belehrung. Sie entwickeln da eine theologische Theorie, mit der Sie dem Menschen eine höchst ehrenvolle, wenn auch vielleicht etwas einseitige religiöse Funktion zuschreiben. Es liegt, wenn ich mir das zu bemerken erlauben darf, eine gewisse Rigorosität in Ihrer Anschauungsweise, die ihr Beklemmendes hat, – verzeihen Sie! Alle religiöse Strenge ist natürlich beklemmend für Leute bescheideneren Formates. Ich denke nicht daran, Sie korrigieren zu wollen, sondern ich möchte nur einlenkend auf Ihre Äußerung über gewisse ›Vorurteile‹ zurückkommen, die nach Ihrer Beobachtung Herr Settembrini Madame, Ihrer Reisebegleiterin, entgegenbringt. Ich kenne Herrn Settembrini lange, sehr lange, {914} seit Jahr und Tag, seit Jahren und Tagen. Und ich kann Sie versichern, daß seine Vorurteile, soweit sie überhaupt bestehen, auf keinen Fall kleinlichen und spießbürgerlichen Charakters sind, – lächerlich, so etwas zu denken. Es kann sich da einzig und allein um Vorurteile von größerem Stil und also unpersönlicher Art handeln, um allgemein pädagogische Prinzipien, bei deren Geltendmachung Herr Settembrini offen gestanden mich in meiner Eigenschaft als ›Sorgenkind des Lebens‹ – Aber das führt zu weit. Es ist eine überaus weitläufige Angelegenheit, die ich unmöglich in zwei Worten –«
    »Und Sie lieben Madame?« fragte Mynheer plötzlich und wandte dem Besucher sein Königsantlitz mit dem weh zerrissenen Munde und den kleinen blassen Augen unter dem Stirnarabeskenwerk zu … Hans Castorp erschrak. Er stammelte:
    »Ob ich … Das heißt … Ich verehre Frau Chauchat selbstverständlich schon in ihrer Eigenschaft als –«
    »Ich bitte!« sprach Peeperkorn, indem er mit zurückdämmender Kulturgebärde die Hand ausstreckte. »Lassen Sie mich,« fuhr er fort, nachdem er auf diese Weise Platz geschaffen für das, was er zu sagen hatte, »lassen Sie mich wiederholen, daß ich weit von dem Vorwurf entfernt bin, dieser italienische Herr habe sich je eines wirklichen Verstoßes gegen die Gebote der Ritterlichkeit – Ich erhebe gegen niemanden diesen Vorwurf, gegen niemanden. Allein mir fällt auf – Im gegenwärtigen Augenblick etwa erfreue ich mich – Gut, junger Mann. Durchaus gut und schön. Ich erfreue mich, daran ist kein Zweifel; es gereicht mir zur wirklichen Annehmlichkeit. Gleichwohl sage ich mir – Ich sage mir kurz und gut:

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