Der Zauberberg
verstärken und verwickelter gestalten. Es hat mir bedeutend zu schaffen gemacht und tut es heute noch, das leugne ich nicht, und ich habe mich absichtlich nach Kräften an die positive Seite der Sache gehalten, das heißt: an meine aufrichtigen Verehrungsgefühle für Sie, Mynheer Peeperkorn, worin übrigens nebenbei eine kleine Bosheit gegen Ihre Reisebegleiterin lag; denn die Frauen sehen es gar nicht besonders gern, wenn ihre Liebhaber zusammenhalten.«
»In der Tat –«, sagte Peeperkorn und verbarg ein Lächeln, indem er mit der hohlen Hand über Mund und Kinn strich, als bestünde Gefahr, daß Frau Chauchat ihn lächeln sähe. Auch Hans Castorp lächelte diskret, und dann nickten sie beide im Einverständnis vor sich hin.
»Diese kleine Rache«, fuhr Hans Castorp fort, »war mir am Ende zu gönnen, denn so weit ich in Frage komme, habe ich wirklich einigen Grund, mich zu beklagen, – nicht über Clawdia und nicht über Sie, Mynheer Peeperkorn, aber mich allgemein zu beklagen, meines Lebens und Schicksals wegen, und da ich die Ehre Ihres Vertrauens genieße und dies eine so durch und durch eigentümliche Dämmerstunde ist, so will ich mich wenigstens andeutungsweise darüber zu äußern versuchen.«
»Ich bitte darum«, sagte Peeperkorn höflich, worauf Hans Castorp fortfuhr:
»Ich bin seit langer Zeit hier oben, Mynheer Peeperkorn, seit Jahren und Tagen, – genau weiß ich es nicht, wie lange, aber es sind Lebensjahre, darum sprach ich von ›Leben‹, und auch auf das ›Schicksal‹ werde ich im rechten Augenblick noch zurück {925} kommen. Mein Vetter, den ich etwas zu besuchen dachte, ein Militär, der es redlich und brav im Sinne hatte, aber das half ihm nichts, ist mir hier weggestorben, und ich bin immer noch da. Ich war nicht Militär, ich hatte einen Zivilberuf, wie Sie vielleicht gehört haben, einen handfesten und vernünftigen Beruf, der angeblich sogar in völkerverbindender Richtung wirkt, aber ich war ihm nie sonderlich verbunden, das gebe ich zu, und zwar aus Gründen, von denen ich nur sagen will, daß sie im Dunklen liegen: Sie liegen da zusammen mit den Ursprüngen meiner Empfindungen für Ihre Reisebegleiterin – ich nenne sie ausdrücklich so, um zu bekunden, daß es mir nicht einfällt, an der positiven Rechtslage rütteln zu wollen – meiner Empfindungen für Clawdia Chauchat und meines Duzverhältnisses zu ihr, das ich nie verleugnet habe, seit ihre Augen mir zuerst begegneten und es mir antaten, – es mir in unvernünftigem Sinne antaten, verstehen Sie. Ihr zuliebe und Herrn Settembrini zum Trotz habe ich mich dem Prinzip der Unvernunft, dem genialen Prinzip der Krankheit unterstellt, dem ich freilich wohl von langer Hand und jeher schon unterstand, und bin hier oben geblieben, – ich weiß nicht mehr genau, wie lange, ich habe alles vergessen und mit allem gebrochen, mit meinen Verwandten und meinem flachländischen Beruf und allen meinen Aussichten. Und als Clawdia abreiste, habe ich auf sie gewartet, immer hier oben gewartet, so daß ich nun dem Flachland völlig abhanden gekommen und in seinen Augen so gut wie tot bin. Das hatte ich im Sinn, als ich von ›Schicksal‹ sprach und mir anzudeuten erlaubte, daß es mir allenfalls zustände, mich über die gegenwärtige Rechtslage zu beklagen. Ich habe einmal eine Geschichte gelesen, – nein, ich habe sie im Theater gesehen, wie ein gutmütiger Junge – er war übrigens Militär, wie mein Vetter, – es mit einer reizenden Zigeunerin zu tun bekommt, – sie war reizend, mit einer Blume hinter dem Ohr, ein wildes, fatales Frauenzimmer, und sie tat es ihm der {926} maßen an, daß er vollständig entgleiste, ihr alles opferte, fahnenflüchtig wurde, mit ihr zu den Schmugglern ging und sich in jeder Richtung entehrte. Als er soweit war, hatte sie genug von ihm und kam mit einem Matador daher, einer zwingenden Persönlichkeit mit prachtvollem Bariton. Es endete damit, daß der kleine Soldat, kreideweiß im Gesicht und in offenem Hemd, sie vor dem Zirkus mit seinem Messer erstach, wo- rauf sie es übrigens geradezu angelegt hatte. Es ist eine ziem- lich beziehungslose Geschichte, auf die ich da komme. Aber schließlich, warum fällt sie mir ein?«
Mynheer Peeperkorn hatte bei Nennung des »Messers« seine Sitzlage im Bette etwas verändert, war kurz beiseite gerückt, indem er rasch das Gesicht seinem Gaste zugewandt und ihm forschend ins Auge geblickt hatte. Jetzt richtete er sich besser auf, stützte sich auf den
Weitere Kostenlose Bücher