Der Zauberberg
sprach Peeperkorn leise:
»Sie waren Clawdias Geliebter bei ihrem vorigen Aufenthalt.«
Hans Castorp ließ noch einmal den Kopf sinken, richtete ihn aber gleich wieder auf und sagte nach einem tiefen Atemzug:
»Mynheer Peeperkorn! Es widersteht mir im höchsten Grade, Sie zu belügen, und ich suche nach einer Möglichkeit, das zu vermeiden. Es ist nicht leicht. Ich prahle, wenn ich Ihre Feststellung bestätige, und ich lüge, wenn ich sie leugne. Das ist so zu verstehen. Ich habe lange Zeit, sehr lange Zeit mit Clawdia – verzeihen Sie – mit Ihrer gegenwärtigen Reisebegleiterin zusammen in diesem Hause gelebt, ohne sie gesellschaftlich zu kennen. Das Gesellschaftliche schied aus in unseren Beziehungen oder in meinen Beziehungen zu ihr, von denen ich sagen will, daß ihr Ursprung im Dunklen liegt. Ich habe Clawdia in meinen Gedanken nie anders als Du genannt und auch in Wirklichkeit nie anders. Denn der Abend, an dem ich gewisse {920} pädagogische Fesseln, von denen schon kurz die Rede war, abstreifte und mich ihr näherte – unter einem Vorwand, der mir von früher her nahe lag –, war ein maskierter Abend, ein Faschingsabend, ein unverantwortlicher Abend, ein Abend des Du, in dessen Verlauf das Du auf traumhafte und unverantwortliche Weise vollen Sinn gewann. Er war aber zugleich der Vorabend von Clawdias Abreise.«
»Vollen Sinn«, wiederholte Peeperkorn. »Sie haben das sehr artig –« Er ließ Hans Castorp los und begann, sich mit den Flächen seiner langnägeligen Kapitänshände beide Gesichtshälften zu massieren, Augenhöhlen, Wangen und Kinn. Dann faltete er die Hände auf dem weinbesudelten Laken und legte den Kopf auf die Seite, die linke Seite, gegen den Gast hin, so daß es einem Abwenden des Gesichtes gleichkam.
»Ich habe Ihnen so richtig wie möglich geantwortet, Mynheer Peeperkorn,« sagte Hans Castorp, »und mich gewissenhaft bemüht, weder zuviel noch zuwenig zu sagen. Es kam mir vor allem darauf an, Sie bemerken zu lassen, daß es gewissermaßen freisteht, jenen Abend des vollen Du und des Abschieds mitzählen zu lassen oder nicht, – daß er ein aus aller Ordnung und beinahe aus dem Kalender fallender Abend war, ein hors d’œuvre, sozusagen, ein Extraabend, ein Schaltabend, der neunundzwanzigste Februar, – und daß es also nur eine halbe Lüge gewesen wäre, wenn ich Ihre Feststellung geleugnet hätte.«
Peeperkorn antwortete nicht.
»Ich habe es vorgezogen,« fing Hans Castorp nach einer Pause wieder an, »Ihnen die Wahrheit zu sagen auf die Gefahr hin, dadurch Ihres Wohlwollens verlustig zu gehen, was, ganz offen gestanden, ein empfindlicher Verlust für mich wäre, ich kann wohl sagen: ein Schlag, ein wirklicher Schlag, den man wohl in Vergleich stellen könnte mit dem Schlag, den es für mich bedeutete, als Frau Chauchat nicht allein, sondern als Ihre Reisebegleiterin hier wieder eintraf. Ich habe es auf diese Gefahr {921} ankommen lassen, weil es längst mein Wunsch gewesen ist, daß Klarheit zwischen uns – zwischen Ihnen, dem ich so außerordentlich verehrungsvolle Empfindungen entgegenbringe, und mir herrschen möge, – das schien mir schöner und menschlicher – Sie wissen, wie Clawdia das Wort ausspricht mit ihrer zauberhaft belegten Stimme, so reizend gedehnt –, als Verschwiegenheit und Verstellung, und insofern ist mir ein Stein vom Herzen gefallen, als Sie vorhin Ihre Feststellung machten.«
Keine Antwort.
»Noch eins, Mynheer Peeperkorn«, fuhr Hans Castorp fort. »Noch eins ließ mich wünschen, Ihnen reinen Wein einschenken zu dürfen, nämlich die persönliche Erfahrung, wie irritierend die Unsicherheit, das Angewiesensein auf halbe Vermutungen in dieser Richtung wirken kann.
Sie
wissen nun, wer es war, mit dem Clawdia, bevor das gegenwärtige positive Rechtsverhältnis sich herstellte, das nicht zu respektieren natürlich ausgemachter Wahnsinn wäre, einen – einen neunundzwanzigsten Februar erlebt, verbracht, begangen – also begangen hat. Ich habe für mein Teil diese Klarheit nie gewinnen können, obgleich ich mir klar darüber war, daß jeder, der in die Lage kommt, darüber nachzudenken, mit solchen Vorgängen, ich meine eigentlich Vorgängern, rechnen muß, und obgleich ich ferner wußte, daß Hofrat Behrens, der, wie Sie vielleicht wissen, in Öl dilettiert, im Laufe vieler Sitzungen ein hervorragendes Porträt von ihr angefertigt hatte, von einer Anschaulichkeit in der Wiedergabe der Haut, die unter uns gesagt zu starkem Stutzen
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