Der Zauberberg
Gleichwohl ist gar kein Zweifel, daß Sie wissen, was ich meine, und um was es sich handelt. Ich behaupte nicht, daß Sie nicht zuweilen das Wort an Madame richteten oder ihr die Antwort schuldig blieben, wenn die Unterhaltung das Umgekehrte mit sich bringt. Aber ich wiederhole, es geschieht mit einer bestimmten Gezwungenheit, genauer: einem Ausweichen, einem Vermeiden, und zwar, wenn man näher zusieht, dem Vermeiden
einer
Form. Man hat, soweit Sie in Frage kommen, den Eindruck, als handelte es sich um eine Wette, als hätten Sie ein Vielliebchen mit Madame gegessen und dürften sich laut Abmachung nicht der Anredeform gegen sie bedienen. Sie vermeiden es folgerecht und ohne Ausnahme, sie anzureden. Sie sagen nicht ›Sie‹ zu ihr.«
»Aber Mynheer Peeperkorn … Was denn für ein Vielliebchen …«
»Ich darf Sie auf den Umstand hinweisen, dessen Sie selbst nicht unkund sein werden, daß Sie soeben blaß geworden sind bis in die Lippen hinein.«
Hans Castorp blickte nicht auf. Gebeugt und angelegentlich beschäftigte er sich mit den roten Flecken auf dem Laken. »Dahin mußte es kommen!« dachte er. »Darauf wollte es hinaus. Ich habe, glaube ich, selber das Meine getan, damit es darauf hinausliefe. Ich habe es in gewissem Grade darauf angelegt, wie mir in diesem Augenblick bewußt wird. Bin ich wahrhaftig so blaß geworden? Es kann wohl sein, denn nun geht es auf Biegen und Brechen. Man weiß nicht, was geschieht. Kann ich noch lügen? Es ginge wohl, doch will ichs gar nicht. Ich bleibe vorderhand bei diesen Blutflecken, Rotweinflecken hier im Laken.«
{918} Auch über ihm schwieg man. Die Stille dauerte wohl zwei oder drei Minuten lang, – sie gab zu bemerken, welche Ausdehnung diese winzigen Einheiten unter solchen Umständen gewinnen können.
Pieter Peeperkorn war es, der das Gespräch wieder eröffnete.
»Es war an jenem Abend, der mir den Vorzug Ihrer Bekanntschaft gebracht hatte«, begann er in singendem Ton und ließ am Schlusse die Stimme sinken, als sei das der erste Satz einer längeren Erzählung. »Wir hatten ein kleines Fest gefeiert, Speise und Trank genossen, und in gehobener Stimmung, in menschlich gelöster und kühner Verfassung suchten wir zu vorgerückter Stunde Arm in Arm unser Nachtlager auf. Da geschah es, hier vor meiner Tür, beim Abschiede, daß mir die Eingebung kam, die Aufforderung an Sie zu richten, Sie möchten mit den Lippen die Stirn der Frau berühren, die Sie mir als einen guten Freund von früherem Aufenthalte her vorgestellt hatte, und es ihr anheimzugeben, diese feierlich-heitere Handlung zum Zeichen der erhöhten Stunde vor meinen Augen zu erwidern. Sie verwarfen rundweg meine Anregung, verwarfen sie mit der Begründung, Sie empfänden es als unsinnig, mit meiner Reisebegleiterin Stirnküsse zu tauschen. Sie werden nicht bestreiten, daß das eine Erläuterung war, die selbst der Erklärung bedurft hätte, einer Erklärung, die Sie mir bis zur Stunde schuldig geblieben sind. Sind Sie gewillt, diese Schuld jetzt abzutragen?«
»So, das hat er also auch gemerkt«, dachte Hans Castorp und wandte sich noch näher den Weinflecken zu, indem er mit der gekrümmten Spitze des Mittelfingers an einem davon kratzte. »Im Grunde wollte ich wohl damals, daß er es merkte und es sich merkte, sonst hätte ichs nicht gesagt. Aber was nun? Mir schlägt das Herz nicht wenig. Wird es einen Königskoller vom ersten Range geben? Vielleicht täte ich gut, mich nach seiner Faust umzusehen, die möglicherweise schon über mir {919} schwebt? Eine hoch-eigentümliche und äußerst brenzlige Lage, in der ich mich da befinde!«
Plötzlich fühlte er sein Handgelenk, das rechte, von der Hand Peeperkorns umfaßt.
»Jetzt faßt er mich am Handgelenk!« dachte er. »Na, lächerlich, was sitze ich da wie ein begossener Pudel! Habe ich mich schuldhaft vergangen gegen ihn? Keine Spur. Zuerst hat der Mann in Daghestan sich zu beklagen. Und dann dieser und jener. Und dann ich. Und
er
hat sich meines Wissens überhaupt noch nicht zu beklagen. Was schlägt mir also das Herz? Es ist hohe Zeit, daß ich mich aufrichte und ihm frank, wenn auch ehrerbietig in das großmächtige Antlitz blicke!«
So tat er. Das großmächtige Antlitz war gelb, die Augen blickten blaß unter angezogener Stirnlineatur, der Ausdruck der zerrissenen Lippen war bitter. Sie lasen einer in des anderen Augen, der große alte und der unbedeutende junge Mann, indem der eine fortfuhr, den anderen am Handgelenk zu halten. Endlich
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