Der Zauberberg
Augenblick nicht erwehren konnte und an dem er sogar ein gewisses Gefallen fand; denn mehrmals im Laufe der Mahlzeit suchte er ihn sich zurückzurufen, und zwar mit dem Erfolge vollkommener Täuschung. Die muntere alte Dame redete wieder in ihrer verwischten Sprache auf den ihr schräg gegenübersitzenden Dr. Blumenkohl ein, der ihr mit besorgter Miene zuhörte. Ihre magere Großnichte aß endlich etwas anderes als Yoghurt, nämlich die seimige Crème d’orge, welche die Saaltöchter in Tellern serviert hatten; doch nahm sie nur wenige Löffel davon und ließ sie dann stehen. Die hübsche Marusja {116} stopfte ihr Taschentüchlein, das ein Apfelsinenparfüm ausströmte, in den Mund, um ihr Kichern zu ersticken. Miß Robinson las dieselben rundlich geschriebenen Briefe, die sie schon heute morgen gelesen hatte. Offenbar konnte sie kein Wort deutsch und wollte es auch nicht können. Joachim sagte in ritterlicher Haltung etwas auf englisch zu ihr über das Wetter, was sie einsilbig kauend beantwortete, um dann ins Schweigen zurückzukehren. Was Frau Stöhr in ihrer schottischen Wollbluse betraf, so war sie heute vormittag untersucht worden und berichtete darüber, indem sie sich auf ungebildete Weise zierte und die Oberlippe von ihren Hasenzähnen zurückzog. Rechts oben, so klagte sie, habe sie Geräusch, außerdem klinge es unter der linken Achsel noch sehr verkürzt, und fünf Monate, habe »der Alte« gesagt, müsse sie noch bleiben. In ihrer Unbildung nannte sie Hofrat Behrens »den Alten«. Übrigens zeigte sie sich empört darüber, daß »der Alte« heute nicht an ihrem Tische sitze. Der »Tournee« zufolge (sie meinte wohl »Turnus«) sei ihr Tisch heute mittag an der Reihe, während »der Alte« schon wieder am Nebentische links sitze – (wirklich saß Hofrat Behrens dort und faltete seine riesigen Hände vor seinem Teller). Aber freilich, dort habe ja die dicke Frau Salomon aus Brüssel ihren Platz, die jeden Wochentag dekolletiert zum Essen komme, und daran finde »der Alte« offenbar Gefallen, obgleich sie, Frau Stöhr, es nicht begreifen könne, denn bei jeder Untersuchung sähe er ja beliebig viel von Frau Salomon. Später erzählte sie in erregtem Flüstertone, daß gestern abend in der oberen gemeinsamen Liegehalle – der nämlich, die sich auf dem Dache befinde – das Licht ausgelöscht worden sei, und zwar zu Zwecken, die Frau Stöhr als »durchsichtig« bezeichnete. »Der Alte« habe es gemerkt und so gewettert, daß es in der ganzen Anstalt zu hören gewesen sei. Aber den Schuldigen habe er natürlich wieder nicht ausfindig gemacht, während man doch nicht auf der Universität studiert zu haben brauche, um {117} zu erraten, daß es natürlich dieser Hauptmann Miklosich aus Bukarest gewesen sei, dem es in Damengesellschaft überhaupt nie dunkel genug sein könne, – ein Mensch ohne all und jede Bildung, obgleich er ein Korsett trage, und seinem Wesen nach einfach ein Raubtier, – ja, ein Raubtier, wiederholte Frau Stöhr mit erstickter Stimme, indem ihr auf Stirn und Oberlippe der Schweiß ausbrach. In welchen Beziehungen Frau Generalkonsul Wurmbrand aus Wien zu ihm stehe, das wisse ja »Dorf« und »Platz«, – man könne wohl kaum noch von
geheimnisvollen
Beziehungen sprechen. Denn nicht genug, daß der Hauptmann zuweilen schon morgens zu der Generalkonsulin aufs Zimmer komme, wenn diese noch im Bett liege, worauf er dann ihrer ganzen Toilette beiwohne, sondern am vorigen Dienstag habe er das Zimmer der Wurmbrand überhaupt erst morgens um vier Uhr
verlassen,
– die Pflegerin des jungen Franz auf Nummer neunzehn, bei dem neulich der Pneumothorax mißglückt sei, habe ihn selbst dabei betroffen und vor Scham die gesuchte Tür verfehlt, so daß sie sich plötzlich in dem Zimmer des Staatsanwalts Paravant aus Dortmund gesehen habe … Schließlich erging Frau Stöhr sich längere Zeit über eine »kosmische Anstalt«, die sich drunten im Ort befinde und in der sie ihr Zahnwasser kaufe, – Joachim blickte starr auf seinen Teller nieder …
Das Mittagessen war sowohl meisterhaft zubereitet wie auch im höchsten Grade ausgiebig. Die nahrhafte Suppe eingerechnet, bestand es aus nicht weniger als sechs Gängen. Dem Fisch folgte ein gediegenes Fleischgericht mit Beilagen, hierauf eine besondere Gemüseplatte, gebratenes Geflügel dann, eine Mehlspeise, die jener von gestern abend an Schmackhaftigkeit nicht nachstand, und endlich Käse und Obst. Jede Schüssel ward zweimal gereicht –
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