Der Zauberberg
und nicht vergebens. Man füllte die Teller und aß an den sieben Tischen, – ein Löwenappetit herrschte im Gewölbe, ein Heißhunger, dem zuzusehen wohl {118} ein Vergnügen gewesen wäre, wenn er nicht gleichzeitig auf irgendeine Weise unheimlich, ja abscheulich gewirkt hätte. Nicht nur die Munteren legten ihn an den Tag, die schwatzten und einander mit Brotkügelchen warfen, nein, auch die Stillen und Finsteren, die in den Pausen den Kopf in die Hände stützten und starrten. Ein halbwüchsiger Mensch am Nebentisch links, ein Schuljunge seinen Jahren nach, mit zu kurzen Ärmeln und dicken, kreisrunden Brillengläsern, schnitt alles, was er sich auf den Teller häufte, im voraus zu einem Brei und Gemengsel zusammen; dann beugte er sich darüber und schlang, indem er zuweilen mit der Serviette hinter die Brille fuhr, um sich die Augen zu wischen, – man wußte nicht, was da zu trocknen war, ob Schweiß oder Tränen.
Zwei Zwischenfälle ereigneten sich während der großen Mahlzeit und erregten Hans Castorps Aufmerksamkeit, soweit sein Befinden dies zuließ. Erstens fiel wieder die Glastür zu, – es war beim Fisch. Hans Castorp zuckte erbittert und sagte dann in zornigem Eifer zu sich selbst, daß er unbedingt diesmal den Täter feststellen müsse. Er dachte es nicht nur, er sagte es auch mit den Lippen, so ernst war es ihm. Ich muß es wissen! flüsterte er mit übertriebener Leidenschaftlichkeit, so daß Miß Robinson sowohl wie die Lehrerin ihn verwundert anblickten. Und dabei wandte er den ganzen Oberkörper nach links und riß seine blutüberfüllten Augen auf.
Es war eine Dame, die da durch den Saal ging, eine Frau, ein junges Mädchen wohl eher, nur mittelgroß, in weißem Sweater und farbigem Rock, mit rötlichblondem Haar, das sie einfach in Zöpfen um den Kopf gelegt trug. Hans Castorp sah nur wenig von ihrem Profil, fast gar nichts. Sie ging ohne Laut, was zu dem Lärm ihres Eintritts in wunderlichem Gegensatz stand, ging eigentümlich schleichend und etwas vorgeschobenen Kopfes zum äußersten Tische links, der senkrecht zur Verandatür stand, dem »Guten Russentisch« nämlich, wobei sie die {119} eine Hand in der Tasche der anliegenden Wolljacke hielt, die andere aber, das Haar stützend und ordnend, zum Hinterkopf führte. Hans Castorp blickte auf diese Hand, – er hatte viel Sinn und kritische Aufmerksamkeit für Hände und war gewöhnt, auf diesen Körperteil zuerst, wenn er neue Bekanntschaften machte, sein Augenmerk zu richten. Sie war nicht sonderlich damenhaft, die Hand, die das Haar stützte, nicht so gepflegt und veredelt, wie Frauenhände in des jungen Hans Castorp gesellschaftlicher Sphäre zu sein pflegten. Ziemlich breit und kurzfingrig, hatte sie etwas Primitives und Kindliches, etwas von der Hand eines Schulmädchens; ihre Nägel wußten offenbar nichts von Maniküre, sie waren schlecht und recht beschnitten, ebenfalls wie bei einem Schulmädchen, und an ihren Seiten schien die Haut etwas aufgerauht, fast so, als werde hier das kleine Laster des Fingerkauens gepflegt. Übrigens erkannte Hans Castorp dies eher ahnungsweise, als daß er es eigentlich gesehen hätte, – die Entfernung war doch zu bedeutend. Mit einem Kopfnicken begrüßte die Nachzüglerin ihre Tischgesellschaft, und indem sie sich setzte, an die Innenseite des Tisches, den Rücken gegen den Saal, zur Seite Dr. Krokowskis, der dort den Vorsitz hatte, wandte sie, noch immer die Hand am Haar, den Kopf über die Schulter und überblickte das Publikum, – wobei Hans Castorp flüchtig bemerkte, daß sie breite Backenknochen und schmale Augen hatte … Eine vage Erinnerung an irgendetwas und irgendwen berührte ihn leicht und vorübergehend, als er das sah …
Natürlich, ein Frauenzimmer! dachte Hans Castorp, und wieder murmelte er es ausdrücklich vor sich hin, so daß die Lehrerin, Fräulein Engelhart, verstand, was er sagte. Die dürftige alte Jungfer lächelte gerührt.
»Das ist Madame Chauchat«, sagte sie. »Sie ist so lässig. Eine entzückende Frau.« Und dabei verstärkte sich die flaumige Röte auf Fräulein Engelharts Wangen um eine Schattierung, – was übrigens immer der Fall war, sobald sie den Mund öffnete.
{120} »Französin?« fragte Hans Castorp streng.
»Nein, sie ist Russin«, sagte die Engelhart. »Vielleicht ist der Mann Franzose oder französischer Abkunft, das weiß ich nicht sicher.«
Ob es
der
dort sei, fragte Hans Castorp noch immer gereizt und deutete auf einen Herrn mit
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